Am 10. September 1944 verließen die
letzten deutschen Soldaten die griechische Insel Chios. Wenige Kilometer vor
dem türkischen Küstenort Cesme gelegen, war die fünftgrößte Insel Griechenlands über drei Jahre lang von deutschen Truppen besetzt gewesen. Am 4. Mai 1941 waren gegen 18 Uhr Einheiten der 164.Infanterie-Division im Hafen der Inselhauptstadt gelandet. (a) Dort hatten das Vorkommando der Präfekt, der Bürgermeister und der griechische Militärbefehlshaber der Insel empfangen und offiziell die Insel an den deutschen Bataillonskommandeur Winkler übergeben. Für die Wehrmacht war
die Insel ein Etappenort, hier wurden Verwundete des Afrikakorps versorgt. Sie war aber auch ein wichtiger Kreuzungspunkt für die im Meer verlegten Unterseekabel. Diese dienten einerseits der militärische Kommunikation zwischen
den nordägäischen Inseln, verbanden aber andererseits auch das griechische Festland mit der nahegelegenen Türkei.
Chios unterstand militärisch der auf der
Nachbarinsel Lesbos tätigen Ortskommandantur 982, die ab Sommer 1943 zur
Heeresgruppe E gehörte. Völlig kontrollieren konnte die
Wehrmacht Chios nie, dazu fehlten ihr die militärischen Kräfte. Zu Beginn waren etwa 500 Soldaten auf Chios stationiert, während des Krieges halbierte sich die Anzahl. Kampfkräftige Einheiten wurden ab 1942 an die Russlandfront geschickt, während auf Chios auch sogenannte 'Volksdeutsche' - Polen die oft zwangsweise 'eingedeutscht' worden waren, die Garnison bildeten. In mehreren Orten der Insel gab es kleine Militärposten, in denen bis zu 10 Soldaten stationiert wurden.
Griechenland wird ausgepresst
Mit dem Einzug der Wehrmacht am 27. April 1941 in Athen und dem Hissen der Hakenkreuzfahne auf der Akropolis, begann für die
Zivilbevölkerung eine Zeit großer Not und Verfolgung. Vor allem im Winter 1941/42 mussten viele Menschen wegen der katastrophalen Versorgungslage hungern. Deutsche,
italienische und bulgarische Truppen besetzten das Land und plüderten es systematisch aus. Sie beschlagnahmten große Mengen Nahrungsmittel, Rohstoffe und Waren. Dabei duldete
die Wehrmacht durchaus Plünderungen ihrer Soldaten. So bedienten sich nach der
am 20. April 1941 erfolgten Kapitulation Griechenlands deutsche
Soldaten ungestraft in Geschäften der besetzten Hauptstadt.
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Deutsche Soldaten Plündern in Athen |
Der Führung im Reich war Ende 1941 das Elend
der griechischen Zivilbevölkerung bekannt. Zeitungen aus der neutralen Schweiz
hatten darüber berichtet. Dazu meinte Hermann Göring lakonisch:
"Wir können uns nicht übertrieben um die hungernden Griechen kümmern. Das
ist ein Unglück, das noch viele andere Völker treffen wird." (1)
Deutsche Zeitungen schürten gleichzeitig rassistische Ressentiment gegen
Griechen. So schrieb eine Zeitung, die Bevölkerung in den Städten bestehe "gegenwärtig
nur aus Händlern, Schleichändlern, Dieben und Arbeitssscheuen." Aus
diesem Grund sei fraglich: "Wie lange es sich die Achsenmächte in
ihrem schweren Kampf leisten können, eine Bevökerung von Nichtstuern zu
ernähren (...)". (2)
Juden wurden systematisch verfolgt
Die Verfolgung der Juden in
Griechenland begann bereits kurz nach der Kapitulation im April 1941. An der
wirtschaftlich Ausplünderung ihrer jüdischen Mitbürger bereicherten sich auch
viele ihrer Nachbarn. Der Bürgermeister Thessalonikis, Jannis Boutaris, gab im Oktober
2014 ein Zeichen als er sagte, die Stadt "schämt sich für die
Kollaborateure, die mit den Besatzern zusammengearbeitet haben, für die
Nachbarn, die sich fremden Besitz angeeignet haben, für alle, die jene verraten
haben, die davonzukommen suchten." (3) Thessaloniki hatte vor dem
Krieg fast 50 000 Einwohner mit jüdischen Wurzeln. Von Ihnen überlebten
weniger als 1000 die Deportation in die deutschen Vernichtungslager. (4)
Während der deutschen Besetzung von Chios lebte eine jüdische Familie italienischer Nationalität noch auf der Insel, berichtet Philip Argenti in seinem Buch (siehe Anmerkung a). Die jüdische Gemeinde hatte demnach die Insel bereits 1912 verlassen,
nachdem die Insel vom Osmanischen Reich an Griechenland übergeben worden war. Nach zwei Jahren deutscher Besatzung sollen 1943 die griechischen Inselbehörden diese jüdische Familie vor der
Deportation gewarnt haben. Sie überlebten und wanderten später nach Afrika aus. Zwar existieren heute keine Listen der von Chios Verschleppten mehr,
die zentrale deutsche Namenskartei in Bad Arolsen teilte auf Anfrag mit, dass
40 Personen nach Deutschland deportiert wurden, die als Geburtsort Chios
angegeben hatten. Die meisten kamen zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Bei zwei
Personen konnte festgestellt werden, dass sie über das Konzentrationslager Chaidari
bei Athen in ein deutsches KZ verschleppt wurden. (5)
Aktualisierung 12. Mai 2019:
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1939: Ein Schiff mit jüdischen Auswanderern im Hafen von Chios |
Auf einer Facebook-Seite mit alten Fotos aus Chios fand sich im Mai 2019 folgendes Bild. Es zeigt demnach das Schiff "Utrato", das Juden aus Frankreich, Deutschland und den Niederlanden ins türkische Izmir bringen sollte und auf dem Weg im Hafen von Chios festmachte. Die Passagiere waren auf dem Weg in das von den Briten verwaltete Plästina.
Auf meine Nachfrage über das Schicksal der jüdischen Bewohner von Chios erhielt ich folgende Nachricht:
"In the 1900 's there appear to have been about 250 Jewish people in Chios and a Jewish school with 40 students....There
also were 8 shops, mainly selling glassware and fabrics, in the village
of Aplotaria with Jewish owners.... In the corner of Aplotaria and
Kalopleti streets there was a well known coffee shop belonging to a man
called Abraham Ishahar (sp). .... 10 Jewish families used to live In the
area of the Thymiana village, near by the football field and in 1935
there was a Jewish deputy Mayor of Chios!... In 1940 during the Italian
invasion of Greece the Jewish community offered a large amount of money
as a donation to the War Fund!... Most Jewish families lived in the
areas of Fragomaha and Frourio where there was a Jewish Synagogue....
In 1914 during the first expulsion of Greeks from Turkey the Jewish
community offered their school as a shelter to the refugees. ... In
1938-39 some of the Jewish families suspecting what was coming by the
events from Germany fled for Turkey and then Palestine and some left for
France (not yet occupied)!.. Only 60 people were left on Chios. Of
these 60 only one family who managed to hide was able to survive the
Germans. The rest were captured in November of 1941 and transported to
the island of Lesvos and via Thessaloniki ended up in the Birkenau (sp)
camp never to be seen again! In charge of this caprture and expulsion
was an officer called Rosenburg (apparently renowned war criminal) who
arrived in Chios in September of 1941 and who was, also, in charge of
seisure of all Jewish properties.... One of the people who fled to
France called Michel Dassen became a big name in the fashion world in
the1960's. He kept returning to Chios to visit friends and relatives (
the family Desses) as Mr Fasoulakis remembers him in the years between
1965 -70..." https://www.facebook.com/groups/896961166993752/2345874942102360/?comment_id=2350015668354954¬if_id=1557652272572431¬if_t=group_comment_mention
Die Gedenkstätte Jad Vashem bietet auf ihrer Homepage eine Liste jüdischer Opfer des Holocausts, die von Chios stammten: https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_lastName=&s_firstName=&s_place=Chios%20Greece&s_dateOfBirth=
Hungernde Zivilbevölkerung auf Chios
Auch den Menschen auf Chios brachte die
deutsche Besatzung Not und Hunger. In seinen Erinnerungen an diese Zeit
schreibt Demetrios Psaltakis: "Es gab kein Essen. Leute
starben auf der Straße an Hunger." Im Seefahrtsmuseum auf Chios
erzählte mir 2010 ein älterer Herr, der sich um das Museum kümmert: "Ich
war damals ein kleines Kind und weiß noch, wie unsere Eltern mit den deutschen
Soldaten Kleidung gegen Lebensmittel eintauschten. Der Hunger war so
groß." Im August 1942 hieß es in einem Bericht des Internationalen Roten Kreuzes über die Zustände auf der Insel: "Auf Chios gab es praktisch kein Brot mehr, Kinder suchten am Ufer nach Fischresten" Geld war so gut wie nichts wert, eine Honorarliste der Inselärzte legte 1942 für Behandlungen eine Bezahlung in Nahrungsmitteln fest. (I) Das heutige Schifffahrts-Museum der Insel war einst Sitz einer reichen
Reederfamilie. Die Villa wurde während der Besatzung von der Wehrmacht beschlagnahmt und diente als Lazarett für
Verwundete des Afrika-Korps.
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Schiffahrtsmuseum Chios |
Zu Beginn der Besatzung bezahlten die
Soldaten mit erbeuteten griechischen Drachmen. Diese verloren aber so sehr an
Wert, dass die Soldaten auf Chios zum Tauschhandel übergingen. Gleichzeitig
requierierte die Wehrmacht im Juli 1941 auf Chios rund 500
Tonnen Olivenöl, Lederwaren, Felle, Seife und Südfrüchte sowie über 100.000
Zigaretten - die per Schiff aufs Festland gebracht wurden. Dies belegen Einträge in das Kriegstagebuch der 164. Division. (b) Das Raubgut diente dem Unterhalt der Besatzungsoldaten, oder wurde weiter ins Reich
transportiert. "Auf Chios bereicherten sich die Beamten der Deutschen Wirtschaftskommission und einige wenige lokale Händler durch ihr Monopol auf den Handel mit Öl, Zitrusfrüchten und Mastix" (II)
Die schwierige Versorgungslage auf den
griechischen Inseln, die schon in Friedenszeiten auf
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Deutsche Marinesoldaten landen 1941 auf Chios |
Nahrungsmittellieferungen
vom Festland angewiesen waren, verschärften dort operierende U-Boote und
Jagdbomber der Briten. Sie machten Jagd auf die Versorgungsschiffe und verschärften
damit auch die Versorgungslage auf Chios. Während der Besatzung operierten auf
der Insel britisch-griechische Spezialeinheiten - die sich auf den örtlichen
Widerstand stützen konnten. Ihre Aktivitäten wurden dadurch begünstigt, dass
die deutsche Garnison der Insel zu schwach war, um sie überwachen zu können.
Die Wehrmacht kontrollierte hauptsächlich die Inselhauptstadt mit dem wichtigen
Hafen sowie die umliegenden Orte an der Westküste. Trotzdem gelang es dort
Fischern, Flüchtlinge mit ihren Booten auf das nahegelegene türkische Festland
überzusetzen. Dabei gelang es sogar einmal, ein deutsches Patrouillenboot samt
Besatzung zu kapern.
Die katastrophale Versorgungslage überall in Griechenland veranlasste das neutrale Schweden, zur Lieferung von Nahrungsmitteln und anderen Gütern. Anfang 1944 sollte das Schiff "Virili" auch Chios mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen.
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Hafen von Chios heute |
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Gedenktafel |
Am 7. Februar 1944 ging das Schiff im
Hafen von Chios vor Anker und hier kam es zur Katastrophe. Britische
Flugzeuge griffen die "Virili" an, hielten sie es doch für einen
deutschen Truppentransporter. Der Frachter brannte und 17 Besatzungsmitglieder
kamen dabei ums Leben. Neben dem Busbahnhof am Hafen erinnert heute eine
Gedenktafel an das tragische Ereignis. Dabei starben neben Griechen auch zwei
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Schwedisches Schiff nach dem Angriff |
Mitglieder des schwedischen Roten Kreuzes und einige Soldaten der Wehrmacht. Anfang 1944 hatten sich die
deutschen Truppen bereits in das Hafengebiet mit der Kommandantur
zurückgezogen. Das schwerbewachte Hauptquartier hatte man im Hotel KYMA eingerichtet, es existiert heute noch. Allerdings lag es nach 1945 in Trümmern und konnte erst 1963 wiedereröffnet werden. Den Abzug der deutschen Soldaten Anfang September 1944 störten die Alliierten nicht mehr.
Das Denkmal - Der seltsame Gedenkstein des Jason Kalambokas
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Denkmal Jason Klambokas |
Nur drei Tage vor dem Abzug der Deutschen,
am 7. September 1944, wude in der Innenstadt der griechische Offizier Jason
Kalambokas erschossen. Wenige hundert Meter vom Hafen entfernt -
gegenüber der Nationalbank - befindet sich heute, inmitten einer kleinen
Grünfläche, sein Denkmal. Unweit der heutigen Einkaufsstrasse Aplotarias geriet
er in einen deutschen Hinterhalt. Kalambokas gehörte zu den griechischen
Soldaten, die nach der Kapitulation im Mai 1941 auf Seiten der Alliierten
weiterkämpften. Etwa 20.000 Soldaten der griechischen Armee konnten sich damals
der Gefangenahme entziehen und wurden von britischen Schiffen nach Ägypten
gebracht. Dort wurden viele für Sabotageaktionen im besetzten Griechenland
geschult. Kalambokas, der nicht von Chios kam, führte auf der Insel mehrere
Aktionen gemeinsam mit britischen Kommandos und dem örtlichen Widerstand durch.
Da die Besatzer nicht genügend Kräfte zur Kontrolle der Insel hatten, überließ
man die Verwaltung den griechischen Behörden - ein Praxis die überall angewandt
wurde. Außerdem warb man unter den Griechen Kollaborateure für die Miliz
an. Die Angst vieler Chioten vor Repressionen war groß. So saßen zwei Fischer der benachbarten Insel Ikaria auf Chios sechs Monate im Gefängnis. Ihr Fischerboot war in einem Sturm an ihre Küste getrieben und Dorfbewohner von Pyrgie hatten sie dann der örtlichen Polizeit gemeldet. Deutsche Soldaten erpressten Lösegelder: "Unteroffizier Herbert Petzchinski verhaftete einen Chioten, um ihn gegen ein größere Mewnge Olivenöl wieder freizulassen". (III)
Viele Kollaborateure und Milizionäre wechselten nach Abzug der
Deutschen die Seite und kämpften im griechischen Bürgerkrieg (1946-1949) auf
Seiten der Regierung gegen die Kommunisten. Keiner wurde wegen seiner Taten für
die deutschen Besatzer jemals zur Rechenschaft gezogen. Auch auf Chios kam es
während des Bürgerkriegs zu Gefechten mit kommunistischen Partisanen, so bei
Volissos und im Kambos nahe der Hauptstadt. Einige der gefangenen Kämpfer
wurden danach in Athen zum Tode verurteilt. (6)
Direkt neben der Statue Kalambokas befindet sich,
unter Plexiglas, eine Marmorplatte. Auf der Vorderseite stehen auf Griechisch
der Name und das Todesdatum Kalambokas. Auf der Rückseite entdeckt man,
dass er zuvor als Grabstein eines Wehrmachtssoldaten gedient hatte. So kann man
noch deutlich ein großes Eisernes Kreuz erkennen - aus dem nach Protesten, erst
vor einigen Jahren das Hakenkreuz herausgemeißelt wurde. Darunter steht der
Name: Dr. Hermann Westhauser. Der Unteroffzier der Wehrmacht kam beim britischen Luftangriff auf die "Virili" ums Leben. Unter dem eingemeißelten Namen steht auf dem Grabstein immer noch
deutlich lesbar: "Für den Führer und Großdeutschland". Nach
dem Krieg wurden seine sterblichen Überreste - wie die aller in Griechenland
gefallenen Wehrmachtssoldaten - auf den zentralen deutschen Soldatenfriedhof Dyonnisos-Rapentosa,
30 Kilometer nordöstlich von Athen verbracht.
Der Unteroffizier Dr. Hermann Westhauser gehörte zur Geheimen Feldpolizei. (7) Er
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Greuel in Griechenland |
wurde am 4. März 1912 in Wien geboren, kam zu Kriegsbeginn zur Wehrmacht und gehörte ab Ende November 1943 zur Gruppe 621 und dann später zum Abwehrtrupp 383 der Geheimen Feldpolizei. Bis Februar 1944 hatte diese dem
militärischen Nachrichtendienst "Abwehr" unter Wilhelm
Canaris unterstanden. Danach wurde sie direkt dem SS-Reichssicherheits Hauptamt unterstellt.
"Die
GFP ist eine bis heute eher undurchsichtige Organisation, die mit der
Wehrmacht lose verbunden war und oft SS-Leute als Agenten beschäftigte."
(IV) Die Aufgabe der Geheimen Feldpolizei bestand im Schutz der Truppe vor "Zersetzung",
dem Kampf gegen Partisanen und Saboteure sowie der Spionage und Überwachung der
Zivilbevölkerung. Dabei durften ihre Mitglieder im Dienst Zivilkleidung tragen.
Auf das 'Konto' dieser Einheiten und der für sie arbeitenden griechischen
Kollaborateure gingen Folter sowie die Liquidierung tausender Zivilisten. (8)
Ein großer Teil der Mannschaften bestand aus Mitgliedern der deutschen
Sicherheits- und Kriminalpolizei.
Auch auf Chios wurden bei Verhören Gefangene gefoltert, Dr. Hermann Westhausers Einheit sei wegen ihres brutalen Vorgehens auf der Insel gefürchtet gewesen (d). Ihr Auftrag umfasste dabei auch Gegenspionage und das Sammeln von Informationen über das türkische Festland. Argentis nennt Westhausers Einheit deshalb die "wahre Gestapo auf Chios". (e) Das könnte den Umstand erklären, warum die Wehrmacht auf seinem Grabstein nicht nur seinen Dienstgrad, sondern auch den Doktortitel einfügen lies. Auf Nachfrage erklärte mir eine deutsche Dienststelle, dass dies damals äußerst unüblich gewesen sei. (9)
Während der deutschen Besatzung wurden auf Chios von den Deutschen insgesamt 19 Männer hingerichtet. Davon wurden zuvor 14 von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt, die anderen kamen bei Vorfällen ums Leben. So wurden zwei Männer während einer Razzia am Stadtpark erschossen, als sie fliehen wollten. (c)
Der Tod des Jason Kalambokas
"Eigentlich bin ich daran Schuld,
dass Kalambokas erschossen wurde", erzählte lächelnd im Sommer 2014 Georgios Zachariadis (1942- 2020). Er wurde 1942
auf Chios geboren und ging Mitte der 1960er Jahre nach Österreich. Im
Winter leben er und seine Frau Maria in Graz. Jeden Sommer kommen
sie auf die Insel und vermieten bei Karfas Appartments an Touristen.
Georgios Zachariadis war zwei Jahre alt, als Kalambokas erschosossen wurde. "Später wurde mir erzählt, Jason habe kurz vor dem Abzug der Deutschen einen
Bombenanschlag auf die Besatzer versuchen wollen. Er versteckte dazu den
Sprengstoff in einem Korb voller Eier. Meine Mutter wollte seine Aktion
verhindern und ihn - der in unserem Haus übernachtete - einfach weiterschlafen
lassen. Aber ich habe dann am frühen Morgen angefangen laut zu Weinen und so
wurde er doch wach. Die Deutschen hatten von seinem Vorhaben durch Verrat
erfahren und stellten Kalambokas am Morgen eine Falle. " Sie
lauerten ihm am Ende der heutigen Einkaufsstrasse - Aplotarias -
auf: "Er wurde dort von vier deutschen Offizieren auf offener Straße
- vielleicht 50 Meter von unserem Haus entfernt - gestellt und erschossen."
Im Buch Philip Argentis heißt es, die Umstände des Todes Kalambokas am 7. September 1944 seien unklar. So werde behaupt, er sei in eine Falle der Deutschen gelaufen. Er habe sich mit einem deutschen Soldaten treffen wollen, der beabsichtigte zu desertieren. Dann sei dieser Mann aber in Begleitung von zwei anderen Soldaten erschienen, wohl um Kalambokas Festzunehmen. Kalambokas habe seinen Revolver ziehen wollen und sei erschossen woredn. Zuerst hätten die Deutschen nicht gewusst, welche wichtige Rolle Kalambokas im Widerstand der Insel spielte. Dies sei erst nach dem Fund von Schriftstücken in seiner Kleidung klar geworden. (f)
Georgios Vater war einst auch Offizier gewesen und
arbeitete während der Besatzung beim Zoll im Hafen von Chios. Er hatte Verbindungen zum Widerstand
und die Eltern entschlossen sich zu fliehen: "Erst nachdem wir
gerettet waren, zeigte meine Mutter meinem Vater, dass sie unter ihrem Rock
eine Pistole hatte. Er bekam einen ziemlichen Schreck, denn ihm war klar, dass
meine Mutter zweifellos geschossen hätte," Viel später fand
Georgios eine alte britische Munitionskiste seiners Vaters - voller
Dokumente aus dieser Zeit . Dort tauchten auch die Namen griechischer Kollaborateure auf
Chios auf. Georgios meint aber: "Heute macht die Veröffentlichung keinen Sinn mehr,
die Verantwortlichen sind lange tot und die Nachkommen können nichts
dafür.".
Und die Sache mit dem Grabstein?
"Na ja, nach dem Krieg wollte man Kalambokas ein Denkmal setzen. Aber die
Insel war nach dem Krieg arm und hatte für ein Denkmal kein Geld. So kam man
auf die Idee, den deutschen Grabstein aus Marmor quasi 'umzuwidmen' ". Die
Statue kam erst viel später hinzu. Zacharidis bemühte sich lange darum, dass
das Hakenkreuz entfernt wird. Er ärgert sich auch darüber, dass es hier keine
Information für Besucher der Insel über Kalambokas und den 'janusköpfigen'
Grabstein gibt.
Siehe auch die neue Info-Page über die deutsche Besatzung und Interviews mit Zeitzeugen
http://www.occupation-memories.org/de
(a) Philip P. Argenti, The occupation of Chios by the Germans and their administration of the island, Cambridge University Press 1966
(b). a.a. O.
(c). a.a.O. Seite 26 und 31
(d) a.a. O. Seite 28
(e) a.a.O. S. 31
(f) a.a. O S. 74
(1) Götz Aly, Hitlers Volksstaat, Fischer-Verlag 2005, S. 278
(2) siehe Wikipedia: Große Hungersnot in Griechenland
(3) Griechenland-Zeitung, 14. Oktober 2014
(4) www.medienfresser.blogspot.de/2011/11/judisches-thessaloniki-die-mutter.html
(5) Mitteilung der Deutschen Dienststelle am 30. März 2011
(6) http://en.wikipedia.org/wiki/Chios#Modern_period
(7) Schreiben des Militärischen Forschungsamtes in Potsdam
(8) https://de.wikipedia.org/wiki/Geheime_Feldpolizei_%28Zweiter_Weltkrieg%29
Obwohl
diese Spezialeinheiten vermeintliche Partisanen liquidierten -
darunter auch Kinder und Jugendliche und an der Ostfront
"Vergasungswagen" betrieb, wurde sie im Nürnberger Prozess nicht als
verbrecherische Organisation eingestuft.
(9) Schreiben des Internationalen Suchdienstes (ITS) Bad Arolsen vom 10. November 2010
(I) Mark Mazower: "Griechenland unter Hitler", S. Fischer Verlag 2016 S. 81 und S. 94
(II) a.a.O. S.85
(III) a.a.O. S. 207 und 260
(IV) a.a.O S. 269