Der Erste Weltkrieg, die
Urkatastrophe Europas im 20. Jahrhundert, ist bei uns ein Medienthema, wenn es um große Schlachten geht: Marne, Ypern, Verdun, Somme,
Chemin des Dames. Das zwischen 1914 – 1918 etwa 6 Millionen Belgier und rund 2,5
Millionen Franzosen unter deutscher Besatzung leben mussten, erhält bei uns dagegen
kaum mediale Aufmerksamkeit. (1) Auch in der Flut der Buchveröffentlichungen
zum Ersten Weltkrieg, sucht man das Thema – zumindest im deutschsprachigen Raum
– vergebens.
Zwischen 1914 – 1918 hatte
die Armee des Kaisers etwa 3,7% des französischen
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Deutsche Parade in Lille - Quelle: Bundesarchiv |
Staatsgebietes (1914) besetzt
und sie bestimmten den Alltag von 6,3 % aller Franzosen, die dort lebten. Die
besetzten Regionen Nordfrankreichs gehörten zu den großen Industriestandorten
des Landes. So lebten im nahe der belgischen Grenze gelegenen Lille damals rund eine
halbe Million Menschen. Die Stadt gehörte zu den größten Frankreichs. Lille im französischen Flandern war ein wichtiger Standort der Textilindustrie, mehr als 43 000 Menschen
arbeiteten hier, produzierten 90% der französischen
Textilien und 17% des Weltbedarfs. Ein Sechstel der französischen Industrie befand sich in den nun besetzten Gebieten Nordfrankreichs.
Betrachtet man die Praxis
der deutschen Besatzungspolitik 1914-1918, zeigten sich ‚Vorstufen’ dessen, was der
Rassen- und Vernichtungskrieg des NS-Reiches 1939-1945 bringen sollte. „In
der deutschen Herrschaft während des Ersten Weltkrieges klangen Aspekte der
‚Bevölkerungspolitik’ der Nationalsozialisten an…“, schreibt etwa der britische
Historiker Roger Chickering. (2) Sein Kollege Jörg
Leonhard konstatiert: „Die von deutschen Truppen besetzten Teile
Nordfrankreichs erlebten seit Sommer 1914 eine Praxis der administrativen,
kulturellen und ökonomischen Germanisierung.“ (3)
Das Gefühl deutscher
Überlegenheit über die minderwertigen Franzosen und Belgier spielte eine nicht
unwichtige Rolle im Umgang mit der Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete. Diese Hybris existierte bereits vor Kriegsausbruch, so meinte 1913 der junge Albert Schweitzer: "Frankreich ist ein verdorbenes Volk, das Deutschland nicht wiederstehen kann". Nach Kriegsbeginn erklärte die Rheinisch-Westfälische Zeitung ihren Lesern über die Franzosen: "Das Übel ist in dieser Rasse. Es ist ein sterbendes Volk." (4)
Die Kriegssituation verschärfte diese Vorurteile, so nannte man 1916 in Berlin die 10 000 zur Zwangsarbeit deportierten Arbeiter nur „belgische Faulenzer“. Im März desselben
Jahres verfrachtete man junge Mädchen und Frauen aus Lille zwangsweise nach Deutschland. Damit sollten die Einwohner gefügig gemacht und die Stadt von „unnötigen Mäulern“ sowie „Unruhestiftern
und Panikmachern“ gesäubert werden. (5) In den deutschen Frontzeitungen wurde zum "Rassenkampf" des deutschen „Herrenvolk“
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Der 'Herrenmensch' bedient sich selbst - Quelle Bundesarchiv |
aufgefordert. Der NS-Übermensch hatte seine Vorfahren im Kaiserreich, so konnte man in einer Feldzeitung lesen: „(…) wenn ein Volk die Weltherrschaft, nach der wir nicht
streben, beschieden sein sollte, so kann es nur das Deutsche sein“. (6) Die Hybris von der rassischen Überlegenheit der
‚Germanen’ findet sich bereits 1915 in der „Champagne-Kriegszeitung“. Nordfranzosen seien demnach „infolge
germanischer Einwanderung“ an ihrem „germanischem Äußeren“ erkennbar, während
Südfranzosen klein, dunkelhäutig und verschlagen seien. Damit war der 'richtige Umgang' mit der Zivilbevölkerung vorgegeben:
„Sie sollten deutsch reden, die Unterlegenen, wenn sie mit ihren Bezwingern
sprechen dürfen“, fordert 1917 die in Lille produzierte 'Kriegszeitung'. Selbstzweifel waren dem 'Herrenmenschen' fremd, so ruft 1915
der in Münster lehrende Professor Johann Plenge den Kämpfern zu: „Wir sind ein vorbildliches
Volk. Unsere Ideen werden die Lebensziele der Menschheit bestimmen.“ (7)
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Paul v. Hindenburg und Erich Ludendorff Quelle Bundesarchiv |
Historiker sind sich heute darüber einig, dass die Herrschenden im Kaiserreich bei Kriegsbeginn keine einheitlichen
Kriegsziele verfolgten. Entsprechend unterschiedlich war zuerst der Umgang mit der
Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten Belgiens und Nordfrankreichs: „Das Hauptanliegen bestand in der Nutzbarmachung der wirtschaftlichen
Ressourcen der besetzten Länder.“ (8) Es ging darum, die Fronttruppen
und die Besatzungsarmee aus den besetzten Gebieten zu versorgen. Aus diesem Grund blieb
die französische Zivilverwaltung im Amt, sie musste die Befehle der deutschen Kommandanten ausführen. (9) In Belgien
versuchte man den alten Konflikt zwischen dem flämischen und wallonischen Bevölkerungsteil anzuheizen. Aber die Praxis der immer massiveren wirtschaftlichen Ausbeutung verhinderte den Erfolg dieser Politik. Mit dem Antritt der 3. Obersten
Heeresleitung (OHL) Ende August 1916, begann unter Hindenburg und Ludendorff
die totale Kriegsführung. Bewohner Belgiens und Nordfrankreichs wurden zur
Zwangsarbeit herangezogen, viele davon nach Deutschland deportiert. Alleine aus
Belgien wurden zwischen 60.000 und 100.000 Menschen zur Arbeit für die Besatzer
verpflichtet (10) Außerdem versuchte man ‚unnütze Esser’ loszuwerden, also
Kinder, Alte, Kranke und Frauen. Die Zahl der über die Schweiz in das unbesetzte Frankreich von den Besatzern Abgeschobenen beläuft sich auf rund 500.000 Menschen. (11 und 12) Sie wurden von der deutschen Armee aus Nordfrankreich an die Schweizer Grenze gebracht und wurden weiter in den französischen Grenzort Annemasse und nach Evian befördert. Viele Bewohner verließen ihre besetzte Heimat freiwillig, angesichts der katastrophalen Versorgungslage der Zivilbevölkerung - dabei mussten sie ihren gesamten Besitz zurücklassen. (12)
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Ruiniertes Land Quelle: Bundesarchiv |
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Die massive Ausbeutung der
besetzten Gebiete, vor allem ihrer Nahrungsressourcen, bedeutete für die Zivilbevölkerung Hunger, Krankheiten und oft den Tod. Ohne die Unterstützung durch Stiftungen
neutraler Staaten, hätte die Besatzung Belgiens und Nordfrankreichs noch mehr
Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert. Sie versorgten regelmäßig 6 Millionen
Menschen mit dem Lebensnotwendigsten - aber der Hunger blieb. Beim Rückzug der deutschen
Truppen 1918 wurde systematisch die Infrastruktur in der Region zerstört. Außerdem wurden viele Bewohner gezwungen, den abziehenden deutschen Truppen zu folgen. Manche kamen erst nach langer Zeit zurück, viele nie wieder. Wer
nach dem Waffenstillstand und der Befreiung in seine Heimat zurückkehrte, fand
dort zerstörte Bauernhöfe, Dörfer und Städte sowie systematisch unbrauchbar gemachte
Verkehrs- und Kommunikationswege und Felder voller Kriegsschrott und Blindgängern vor. Laut einer staatlichen Zählung im Jahr 1923 lagen über 293.000 Gebäude völlig und weitere 150.000 größtenteils in Trümmern. Insgesamt 620 Gemeinden hatten aufgehört zu existieren, rund 62.000 km² Land waren verwüstet. (13) Die sozialen Verhältnisse hatten sich geändert, was sich aber schwer
beziffern lässt. Die Besatzungsherrschaft hatte die Menschen in einen von ihren 'Herrschern' abhängigen Zustand gebracht, der dem im Mittelalter ähnelte. Einst wohlbehütete Kinder und Jugendliche waren zur Zwangsarbeit verschleppt oder durch den Kampf ums Überleben zu früh Erwachsen geworden. Frauen
hatten sich prostituieren müssen, um sich und ihre Kinder durchzurbringen - manche hatten sich auch in einen deutschen Soldaten verliebt. Viele Männer hatten durch die Zwangsarbeit ihre Gesundheit verloren und fanden nie ins normale Leben zurück. Der Sieg
Frankreichs über Deutschland bieb deshalb für viele der einst Besetzten nur ein schaler Triumph.
Zweiter Teil: Panik und chaotische Zustände in den ersten Kriegsmonaten.
Auf Youtube kann man die spannende Dokumentation von Olivier Sarrazin aus dem Jahr 2014 sehen. Hier wird auf die Besatzungseit eingegangen: "Der ferne nahe Krieg"
(1) Jörg Leonhard, Die
Büchse der Pandora, Beck, 2014, S. 282
(2) Roger Chickering, Das
Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, Beck 2002, S. 102 ff
(3) Siehe Anmerkung 1
(4) Ignaz Miller, Mit vollem Risiko in den Krieg, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2014, S. 84 ff
(5) Jean Jacques
Becker/Gerd Krumeich, Der große Krieg, Klartext Verlag, 2010, S. 86 ff
(6) Anne Lipp,
Meinungslenkung im Krieg, Kriegserfahrung deutscher Soldaten und ihre Deutung
1914-1918, V&R Verlag 2003, S. 190
(7) Oliver Janz, Der große
Krieg, Campus-Verlag 2013, S. 211
(8) siehe Anmerkung 2
(9) Larissa Wegener, Occupation during the war (Belgium and France), International Encyclopedia
of the first world war, online 1914-1918.
(10) Leonhard, a.a.O S. 284
und Chickering ebenda, S. 105.
(11) Helen McPhail, "The long silence", 2001
Taschenbuchausgabe I.B. Tauris Verlag, London-New York, S. 184 ff
(13) siehe Anmerkung 12