Samstag, 3. November 2018

Chios Herbst 2018: Kultur im Dorf.....



Stürmische Ankunft in Volissos


"Also Wettermäßig war dieses Jahr schon ziemlich komisch", meinte unser Freund Georgios, als wir Ende September 'unser' Dorf Volissos im Nordwesten der Insel Chios erreichten. Im Hochsommer habe es geregnet und Anfang Oktober bekamen wir dort die Ausläufer eines Wirbelsturms über der Ägäis zu spüren. Kein Wunder also, dass sich unser Kater "Mavro" immer wieder in unsere Ferienwohnung schmuggelte, um sich aufzuwärmen. Wir konnten ihn ja nicht im Sturm und Regen vor der Tür sitzen lassen.

Fahne-Vom Winde verweht
Profitiert haben vom Orkan wohl nur die Verkäufer griechischer Fahnen. Nach den Sturmnächten hingen sie überall in Fetzen oder waren komplett verschwunden. Immerhin sind sie überall an öffentlichen Gebäuden, Denkmalen oder anderen wichtigen Orten angebracht - wie auch an der alten byzantinischen Festung oberhalb von Volissos. Schon wenige Tage nach dem Sturm, flatterte eine neue Fahne am Mast und das Wetter nahm auch milde Formen an...

Unverändert schwierig ist auch 2018 die wirtschaftliche Lage der Insel: "Ohne die wohlhabenden Besucher vom türkischen Festland, sähe es für uns dieses Jahr noch schlechter aus", meinte ein befreundeter Vermieter alter Bauernhäuser. Sein Sohn Nikos hat gerade in der Hauptstadt ein Hotel in Hafennähe eröffnet, das von den Nachbarn aus der Türkei gerne für einen Wochenendtrip gebucht wird. Viele Tavernen werben mit türkischen Speisekarten um die Gäste, die per Fähre aus dem acht Kilometer entfernten Cesme übersetzen."Diese Besucher bleiben meistens für ein Wochenende und lassen dabei eine Menge Geld hier" sagt Nikos. Ein Spaziergang an der Promenade am Hafenbecken zeigt die schwierige Lage. Einige Lokale haben aufgegeben - Nachmieter haben sich nicht gefunden - sie stehen leer.

Die noch im letzten Jahr optische Präsenz der Flüchtlinge in der Hauptstadt ist deutlich zurückgegangen. Das liegt allerdings weniger daran, dass weniger Schutzsuchende per Schlauchboot vom nahgelegenen türkischen Festland Chios erreichen. Vielmehr wurden das in den Parkanlagen und im Burggraben der alten venezianische Festung gelegenen Zeltlager geräumt. Griechische Neonazis der Chrysi Avghi Partei agitierten vor einigen Monaten auf der Insel, ein Mob griff daraufhin mit Steinen und Brandsätzen Flüchtlinge und ihre Untertstützer am Stadtpark an. Sie wollten dort gegen die katastrophalen Lebensbedingungen im neuen Lager Vial protestieren. Die Inselverwaltung hatte die Camps in der Hauptstadt schließen lassen und dafür im Südwesten der Insel das Lager Vial eröffnet. Weit entfernt vor der Öffentlichkeit leben die Menschen dort in unzumutbaren Umständen. Die Verantwortlichen handeln anscheinend nach dem Motto: Was nicht zu sehen ist, existiert nicht.

Täglich kommen immer noch Schlauchboote mit Flüchtlingen vom türkischen Festland auf Chios an - die Medien in Deutschland interessiert das aber nicht. Auf der fünftgrößten Insel Griechenlands, mit seinen etwa 52 000 Einwohnern - Zwei-Drittel in der Hauptstadtregion - leben derzeit etwa 2100 Flüchtlinge. Sie stellen damit etwa Vier Prozent der Inselbevölkerung. Zum Vergleich: In Stuttgart mit 612.000 Einwohnern sind 6870 Flüchtlinge untergebracht worden - das sind etwas mehr als Ein Prozent. Würden in Stuttgart so viele Flüchtlinge leben, wie auf Chios, müsste die Stadt fast 25 000 Flüchtlinge beherbergen. Was wäre wohl in der Schwaben-Metropole los, wenn dort ähnliche Verhältnisse wie auf Chios herrschen würden... Auf der Insel profitiert auch so mancher Geschäftsmann von den Flüchtlingen: "Sie versorgen das Camp mit Nahrungsmitteln und Getränken und verdienen gut daran - wer kontrolliert schon die Qualität oder den Preis?", lästert ein befreundeter Hotelier. Die Lage ist also eigentlich ruhig, aber Touristen sind eine leicht verschreckbare 'Spezies'. Viele lassen sich auch von ihren heimischen Vorurteilen leiten. "Ein Paar aus den Niederlanden, das seit vielen Jahren regelmäßig zu mir kommt, hat dieses Jahr abgesagt. Sie meinten, es seien ihnen zu viele Kopftuchträger und Muslime hier", meinte kopfschüttelnd eine Tavernenwirtin zu uns.


Kürzlich wurde in der Nähe des Flughafens "Omiros" eine neue Privatschule für den maritimen Nachwuchs der Insel eröffnet. Hier erwerben die Jugendlichen nicht nur einen Schulabschluss, sie lernen auch Grundbegriffe der Schiffahrt und des Seehandels. Kein Wunder, denn Chios ist seit Jahrhunderten für seine Seefahrer und reichen Reeder bekannt. Nicht umsonst verbrachte Chrstoph Kolumbus einige Zeit auf der Insel, um von den Griechen etwas über Navigation zu lernen. Viele der wichtigsten griechischen Reederfamilien haben ihre Wurzeln auf Chios und der benachbarten kleinen Insel Oinousses. Ihre Landsitze und Villen sind ein Beleg für ihren Reichtum. Auch für Luxusreisende ist Chios zu einem Reiseziel geworden, hier legen im Sommer Luxusyachten im Hafen der Stadt an. Ein großes Motorschiff hielten wir für einen Kreuzfahrer, bis uns ein Freund über das Schiff aufklärte: "Vor einiger Zeit rief mich eine Agentur an, die Luxusreisen organisieren. Sie wollten, dass ich für ihre Gäste chiotische Spezialitäten für einen Strandaufenthalt in die Bucht vopn Karinda im Süden der Insel liefern sollte". Die Bucht ist ein felsiger Fjord mit klarem Waser und einem kleinen Kiesstrand: "Die haben dann mit zwei Landungsbooten eine komplette Strand-Ausrüstung am Strand aufgebaut. Wisst Ihr, was die reichen Russen an Miete für die Yacht gezahlt haben? 650 000 Euro in der Woche!" Wir wollten das nicht glauben, aber er zeigte uns die Homepage der Luxus-Reiseagentur. 


Kultur in Volissos

 

Es gibt glücklicherweise Wohlhabende, die ihr Geld sinnvoller ausgeben. So organisiert eine Stiftung, die von griechischen Reedern gesponsert wird, eine Gesundheitsaktion in abgelegene Gebieten Griechenlands. Dieses Jahr kamen sie auch in die Region Amani, im Nordwesten von Chios. Hier wohnen etwa 800 Menschen, vor allem Ältere, die Gesundheitsversorgung ist mangelhaft. Im Hauptort Volissos gibt es zwar eine Sanitätsstation, in der junge Ärzte ein Jahr Dienst tun müssen, bevor sie eine Praxis eröffnen dürfen. Aber ihre Möglichkeiten sind begrenzt - fachärztliche Beratung ist nur in der zentralen Klinik der Hauptsstadt möglich und das bedeutet einen Autofahrt von etwa zwei Stunden.Die Stiftung bringt für ein paar Tage eine Gruppe von Fachärzten vor Ort, damit sich die Einwohner der Region untersuchen lassen können. 

Das Omikron-Team von Volissos
Während der Ärzte-Aktion sammelten junge Leute auf abgelegenen Stränden angeschwemmten Plastikmüll. Eine Gruppe von Aktiven auf der Insel versucht schon seit längerem, bei den Einwohnern ein Bewusstsein für die Verschmutzung der Meere zu schaffen. Außerdem engagiert sich eine weitere Gruppe Freiwilliger für den Schutz vor Waldbränden.  Im Jahr 2012 hatte ein Feuer schwere Schäden im Süden der Insel angerichtet. Damals waren die freiwilligen Helfer schlecht ausgerüstet und die Feuerwehr überfordert - noch heute sieht man die Spuren. Um so etwas im Nordwesten zu verhindern, haben sich Freiwillige in der Region Amani zur Gruppe Omikron zusammengeschlossen. Sie entfernen Gestrüpp von Wegen und senken so die Feuergefahr. Die Forstbehörde und die Feuerwehr bilden das Omikron-Team in der Brandbekämpfung aus. Die Menschen hier haben begriffen, dass es keinen Zweck hat, über staatliches Versagen zu schimpfen - sie sind selber aktiv geworden. In Volissos engagieren sich viele Bewohner bei Omikron - auch unsere Freunde Georgios und Marianna.  

Die Schule von Volissos

Zum Abschluss der Aktionstage der Ärzte gab es dann in Volissos noch etwas ganz besonderes: Fünf Musiker gaben am Abend ein Konzert unter freiem Himmel - direkt vor der alten Schule von Volissos. Unsere Freunde George und Marianna hatten uns mitgenommen und es waren mehr als 100 Zuschauer gekommen - bei wohlgemerkt 350 Einwohnern im Dorf. Wir und unsere griechischen Freunde waren erstaunt, dass so viele Volissianer gekommen waren. Als die Musik begann, wurden die herumlaufenden Kinder schnell ruhig, sie folgten fasziniert der Darbietung der fünf Künstler. Das Bläser-Quintett war extra aus Athen angereist - der Auftritt war auch für sie etwas besonders. So hatten sie zuerst damit zu kämpfen, das ihre Instrumente wegen der feuchten Abendluft mehrfach nachgestimmt werden mussten - aber sie blieben gelassen. Zuerst wurde eine Mischung bekannter klassischer Stücke, von Tschaikowsky bis Bizet gespielt. Als in der nahegelegenen Kirche die Glocke der Turmuhr schlug, unterbrach das Quintett seine Darbietung, um dann nach dem letzten Schlag weiter zu spielen. Die zweite Hälfte des Konzerts bestand aus griechischer Musik, die man klassisch arrangiert hatte. Dabei begannen viele Zuhörer, die bekannten Volksweisen leise mitzusingen. Plötzlich erkannte ich die Melodie des Liedes "Ta Paida Tou Piraia" - in Deutschland besser bekannt als "Ein Schiff wird kommen". Es stammt aus dem Kinofilm der 1960iger Jahre "Sonntags nie" mit Melina Mercouri - die das Lied dort sang. Hier am Abend in Volissos summten viele die Melodie mit, darunter viele ältere Frauen - es war anrührend. Nach dem Konzert liefen wir, die hell erleuchtete Burgruine über uns, mit George und Marianna in eine Dorftaverne - was für ein griechischer Abend!   

Festung von Volissos by night....

Kurz vor der Abreise gab es dann noch ein 'Event' der anderen Art. Im Herbst gibt es regelmäßig Manöver der griechischen Armee in der Bucht von Managros. Unsere Freunde hatten uns schon vorgewarnt, aber diesmal war wirklich der Teufel los. Vor allem die Luftkämpfe simulierenden Jets der griechischen Luftwaffe waren beängstigend. Sie donnerten im Formationsflug immer wieder nur wenige hundert Meter über unseren Köpfen hinweg, während in der Bucht Landungsschiffe Panzer an Land brachten. Der Krach war ohrenbetäubend, Hubschrauber setzten Soldaten ab und man hörte das Geknatter der Waffen. Vor allem für syrische Flüchtlinge auf der Insel dürfte diese Übung schreckliche Erinnerungen an ihre realen Kriegserlebnisse wachgerufen haben. 


Glücklicherweise war das militärische Spektakel nach zwei Tagen vorbei und wir konnten einen abschließenden Wandertag an der Nordküste genießen. Diese Stille! Das großartige Panorama mit Blick bis zum benachbarten Mytillini (Lesbos) - Ruhe und Entspannung. Besonders erfreut waren wir über die neuen Schilder, die zum Wandern auf alten Wege einladen. Bisher war es nicht immer einfach, den Pfaden zu folgen, die oft zugewachsen waren. Eine Gruppe engagierter Chioten kümmert sich seit Jahren darum, die Wege vom Gestrüpp frei zu halten und haben dieses Jahr im Nordwesten viele Wegweiser aufgestellt. Dies ist vor allem das Verdienst unseres Freundes Georgios Chalatsis, der sich seit langen Jahren dafür engagiert. Einst arbeitet er als Lehrer in München und ist für uns ein hellenischer Bayer - oder umgekehrt. Die alten Pfade und Wege wurden auf Chios teilweise schon während der byzantinischen Zeit im Mittelalter angelegt. Viele waren noch bis weit in das letzte Jahrhundert die einzige Verbindung zwischen Inseldörfern. 

Wieder verging die Zeit auf Chios schnell - aber Weihnachten sind wir wieder zurück in Volissos! 

Ach ja: Zunehmend macht sich deutscher Biergeschmack auch auf Chios breit...