Dienstag, 20. April 2021

Corona Tests am Arbeitsplatz...auch im Rundfunk?


 

Jeden Tag informieren Radio und Fernsehen über die Entwicklung der Covid 19 Pandemie. In den letzten Wochen ist dabei vor allem die Ansteckungsgefahr in Werkhallen und Büros in den Focus gerückt. Seit 20. April müssen Unternehmen MitarbeiterInnen, die sich nicht im Home-Office befinden, wöchentlich einen Schnelltest anbieten. Wie werden aber die Beschäftigten der Rundfunkanstalten geschützt? Bei ARD, ZDF und Deutschlandradio arbeiten etwa 42 000 Menschen, davon 58% als Festangestellte. (1) Bei den beiden großen kommerziellen Veranstaltern, ProSiebenSat1 und RTL-Gruppe sind zusammen über 10.000 Mitarbeiter tätig. 

Tests bei größeren Produktionen frühzeitig

Eine schriftliche Anfrage bei den Landesrundfunkanstalten der ARD (incl. Deutschlandradio) und dem ZDF in Mainz ergab, dass bei größeren Produktionen (Shows-Filme-Serien) bereits seit dem letzten Jahr Tests angeboten wurden. Beim  Südwestrundfunk (SWR), hat man demnach seit Oktober 2020 "Beschäftigten im Falle einer Corona-Infektion einer zuvor im räumlichen Umfeld tätigen Kolleg*in" Tests angeboten. Seit Mitte Januar 2021 gebe es diese nunmehr regelmäßig bei allen größeren Produktionen und den Klangkörpern. Das Deutschlandradio teilte mit, seit Herbst 2020 "Tests für Beteiligte bestimmter (Außen-) Produktionen" anzubieten Auch das ZDF betonte, man habe Testmöglichkeiten bereits "seit geraumer Zeit" bei größeren Produktionen eingeführt. Die RTL-Group bietet nach eigenen Angaben "seit November letzten Jahres allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für die Sicherstellung zentraler Tätigkeiten wie des Produktions- und Sendebetriebes vor Ort erforderlich sind und nicht im Mobile Office arbeiten könne, die Möglichkeit von kostenlosen Schnelltests." Dies gelte insbesonders bei Live-Show-Produktionen, Inhouse-Drehs sowie vor größeren Meetings. 

Massenhafte Tests erst seit Mitte April

 

Richtig in Schwung gekommen ist die Test-Praxis bei den Rundfunkanstalten erst im April, das liegt auch daran, dass erst jetzt genügend Selbstests auf dem Markt sind. Ein Grund für die forcierung von Massentests bei Unternehmen dürfte die aggressivere britische Variante des Virus sein.Von ihr sind zunehmend Jüngere - und damit Arbeitnehmer betroffen. Studien ergaben, dass vor allem in geschlossen Räumen - Werkshallen und Büros - die Ansteckungsgefahr erheblich ist. Damit wuchs in der Öffentlichkeit der Druck auf Politik und Unternehmen. Bei den ARD-Anstalten werden jetzt MitarbeiterInnen, die nicht im Homeoffice arbeiten, regelmäßige Schnelltest angeboten (Radio Bremen, Hessischer Rundfunk, Norddeutscher Rundfunk, Westdeutscher Rundfunk, Saarländischer Rundfunk, Bayerischer Rundfunk, Südwestrundfunk, Mitteldeutscher Rundfunk, Deutschlandradio). (2) Auch das ZDF sowie die ProSiebenSat1-Gruppe und die RTL-Group verfahren ähnlich.    
 

Hierarchische Instanzen

 

Zur Umsetzung des Corona-Schutzes wurden in den Rundfunkanstalten umfangreiche Strukturen geschaffen. So gibt es bei Radio Bremen einen "Pandemiestab, der das Corona-Krisenmanagement organisiert". Grundsätzlich setzt man an der Weser "auf Vertrauen und die Eigenverantwortung der Mitarbeiter*innen." Ähnlich sieht man das beim Hessischen Rundfunk, dort werden Schutzmaßnahmen "dezentral über die jeweiligen Abteilungsleitungen organisiert" - dabei helfe die "AG-Pandemie" beratend. Beim NDR werden die Mitarbeiter über ein "Corona-Newsletter" im Intranet des Senders informiert. Beim Bayerischen Rundfunk sind Mitarbeiter wie Führungskräfte aufgefordert, die Schutzmaßnahmen einzuhalten. "Durchhalten (...) Mehr ist in der Regel auch nicht erforderlich (...) die Akzeptanz der Maßnahmen ist sehr hoch", ist man sich in München sicher. 
 
Die Organisation der Schutzmaßnahmen und die Hierarchie der Kontrolle ist bei allen ARD-Anstalten ähnlich aufgebaut. Beim Deutschlandradio gibt man sich forsch: "Schutzmaßnahmen werden (...) streng und erfolgreich umgesetzt." Immerhin, seit Beginn der Pandemie an den Standorten Berlin und Köln seien keine Ansteckungen am Arbeitsplatz bekannt geworden. Das ZDF teilte zur betrieblichen Organisation der Corona-Schutzmaßnahmen nur mit, die Anstalt "richtet sich (...) nach dem Beschluss von Bund und Ländern (...) und kommt der Selbstverpflichtung der Unternehmen nach." Ählich kurz ist das Statement der ProSiebenSat1 Gruppe: Schnelltests seien "ein Baustein unserer umfangreichen, bereits bestehenden Corona-Arbeitsschutzregeln." Wie die genau aussieht, wird nicht erklärt. Bei der RTL-Group in Köln war man auskunftsfreudiger. Demnach besteht im gesamten Gebäude Maskenpflicht,  Betriebsabläufe seien räumlich geteilt worden. "So vermeiden wir unnötige Durchmischung unserer Teams und unnötige gleichzeitige Anwesenheiten."

Und die Wirklichkeit?

 

Nun gibt es bekanntlich immer einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Beim Thema Covid 19 scheint dies davon abhängig zu sein, wie ernsthaft die Beschäftigten selber ihren Schutz nehmen. Gerade in aktuellen und sendetechnisch wichtigen Bereichen ist die Arbeit von Zeitdruck, Hektik, räumlicher Enge geprägt. Teams wechseln oft in der täglichen Besetzung - sagen Insidern. So wuden zwar schnell Hierarchien eingerichtet, "aber die nötigen FFP-Masken haben uns dann nur schleppend erreicht", kritisiert ein technischer Mitarbeiter einer ARD-Anstalt im Osten der Republik. "Das Programm muss laufen, da wird dann von den Verantwortlichen oft ein Auge zugedrückt bei Mindestabstand und Hygiene." Der Weg von den Regelungen der Corona-Krisenstäbe bis in die Redaktionen sei eben weit. So habe es etwa einige Zeit gedauert, bis bei die Schnelltests auch angekommen seien. Kritisiert wird auch eine mangelnde Kontrolle: "man setzt halt auf die Selbstverantwortung der Mitarbeiter." Die Angst vor einem positiven Test sei logisch, eventuell müssten dann ja ganze Abteilungen geschlossen, Mitarbeiter in Quarantaine geschickt werden.
 
Bei den Gewerkschaften (Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi im DGB, Deutscher Journalisten Verband) reagiert man gelassen. So teilte Hendrik Zörner vom DJV auf Nachfrage mit, man habe bisher keine Informationen über die Testpraxis vor Ort: "Wenn es dort Unzufriedenheit der Beschäftigten gäbe, wäre das auch zu mir durchgedrungen. (...) Das ist bisher nicht der Fall, weshalb ich zunächst keinen Anlass zur Kritik habe". Bei Verdi betonte ein Sprecher, die Personalräte hätten über die Vorschriften der Berufsgenossenschaft zum Arbeits- und Gesundheitsschutz gute Möglichkeiten, die Einhaltung der Vorschriften einzufordern.
 
 

(1) 22. Bericht der Kommission für die Ermittlung des Finanzbedarfs des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks (KEF) 

(2) Nur Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) hat auf meine Anfrage nicht geantwortet.

Sonntag, 4. April 2021

150 Jahre Pariser Commune - Vergangen und Vergessen ?

 
Mauer der Föderierten - Père Lachaise Anfang der 1990er 
 

Kommunismus - Diktatur des Proletariats - Klassenkampf - Arbeiterklasse - Revolution - Sozialismus - Avantgarde. Für die Debatte des Jahres 2021 über Politik und Gesellschaft sind das toxische Begriffe. Heute stehen dafür nur noch Staaten wie China, Vietnam, Cuba oder Nordkorea - mit einer diktatorisch herrschenden Partei. So hatten sich das weder Karl Marx noch Friedrich Engels beim Verfassen des Kommunistischen Manifestes 1848 und ihren Schriften zur Pariser Commune 1871 vorgestellt... 

Die 72 Tage der "Pariser Commune" vor 150 Jahren stellten die Frage nach der sozialen Gesellschaft und versuchten diese zu verwirklichen. Sie existierte vom 18.März 1871 bis 28.Mai - also nur zweieinhalb Monate lang. Ihr Handeln und Scheitern prägte die spätere Debatte innerhalb der Linken über Revolution und Reformismus. Nach der Niederschlagung durch die Regierungstruppen aus Versailles nahmen die Sieger eine Woche lang blutige Rache. Die Zahl der Opfer wurde nie genau ermittelt, die Stadtverwaltung stellte später der Regierung die Beseitigung von über 17.000 Leichen in Rechnung. Damals töteten die Soldaten in einem Blutrausch Frauen, Männer, Alte und Kinder - hauptsächlich in den Vierteln der Arbeiter, Handwerker und Armen von Paris - unter dem Beifall der Bourgeois von den Boulevards der wohlhabenden Arrondissements. Die Opfer wurden mit Karren zu den Massengräbern gebracht und dort verscharrt: Gefangene Frauen wurden vor ihrer Ermordung von Soldaten der Regierung vergewaltigt. Viele Kommunarden flohen und gingen ins Exil, etwa 40.000 Menschen wurden verhaftet, einige Tausend von ihnen verbannte man in den entlegendsten Winkel des Kolonialreiches - Neukaledonien, eine Inselgruppe vor Australien. Erst zehn Jahre später konnten die meisten zurückkehren, aber heute noch leben dort Nachfahren der Deportierten. Aufgehoben wurden die Urteile gegen die Kommunarden bis heute nicht. 

Père Lachaise - einziges Mahnmal  

Clements Grab -1990
Die letzten Kämpfe fanden Ende Mai 1871 auf dem Friedhof Père Lachaise im Arbeiterbezirk von Belleville statt. Hier befindet sich auch das heute bekannteste Mahnmal für das Massaker - die "Mur des Fédérés - Mauer der Föderierten". Am Rande des Friedhofs gelegen, wurden 147 Kommunarden erschossen und verscharrt. Später wurde dieser Teil des Friedhofs zur 'Pilgerstätte' der Sozialisten und Kommunisten. Hier liegen Eugène Pottier, Kommunarde und Dichter der 'Internationale', Jean Baptiste Clèment, Kommunarde und Poet. Sein Lied "Le temps des cérises" ist die romantische Hymne der Commune - obwohl Jahre davor geschrieben. Der Radikalsozialist Auguste Blanqui wurde hier begraben wie Maurice Thorez, Chef der orthodoxen Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) bis 1964. Nicht weit von der Mauer der Komunarden entfernt liegt das Grab von Edith Piaf, der berühmtesten Sängerin von Paris - sie wurde in Belleville geboren. Auch die Sieger haben hier, weit entfernt von ihren Opfern, ihrem Stand entsprechend prächtige Grabmäler, wie Adolphe Thiers.. Der Royalist war Präsident der offiziellen Regierung in Versailles und ordnete die blutige Zerschlagung der Commune an. Heute kommen die wenigsten Besucher auf den Père Lachaise, um der Kommunarden zu gedenken. Sie suchen die Gräber berühmter Künstler, wie Molière oder La Fontaine, Chopin, Ives Montand, Simone Signoret, Edith Piaf oder Jim Morrison.

Das Blutbad

Letzte Kämpfe zwischen Gräbern
"Keine einzelne Schlacht im Deutsch-Französischen Krieg hat so viele Franzosen das Leben gekostet. Die Zahl derer, die in diesen wenigen Tagen getötet wurde, übertrifft bei weitem die der Köpfe der (....) großen Revolution. Nicht einmal Lenins Oktoberrevolution in Petersburg - ausgenommen der Bürgerkrieg (...) sollte so viele Todesopfer fordern". (1) Die Zahl der von Kommunarden hingerichtete Geiseln wird auf zwischen 40 und mehreren Hundert beziffert. Darunter befand sich der Erzbischof von Paris. Ihre Eschießungen fanden während der chaotischen Endphase statt, als sich die Commune in Auflösung befand. Die Versailler Generäle Lecomte und Thomas wurden dagegen am 18.März von aufgebrachten Bürgern in Montmartre getötet. Sie hatten mit Truppen auf Befehl von Präsident Thiers versucht, Geschütze auf dem Montmartre abzutransportieren. In der Nacht stellten sich ihnen wütende Bewohner - vor allem Frauen - entgegen. Als General Lecomte mehrfach Schießbefehl erteilte, weigerten sich seine Soldaten. Die rasende Menge bemächtigte sich daraufhin der Generäle und tötete sie auf dem Montmartre. 

Mauer der Föderierten - links unten  
Nach dem Sturz Napoleons III. und dem militärischen Scheitern der darauf folgenden republikanischen Regierung gegen die deutschen Invasoren, wählten die Franzosen im Februar 1871 ein neues Parlament. Hier bekamen Royalisten und Konservative die Mehrheit. Das Ziel war: Frieden um jeden Preis und Sicherung der Macht der alten Eliten. Aber gegen Friedensverhandlungen mit Bismarck drohte der Regierung Thiers die Revolte in Paris. Daher lautete sein Devise: "Frieden schließen und Paris unterwerfen". (2) Durch die von Thiers angeordnete Aufhebung der während der Belagerung gestundeten Mietschulden der Pariser und die Einstellung der Zahlungen an die Nationalgarde, sollte die rebellische Hauptstadt zur Aufgabe veranlasst werden. Das verhinderte der gescheiterte Coup vom 18. März, denn in der Folge übernahm das Zentralkomitee der Nationalgarde die Macht in der Stadt, während die Regierung nach Versailles floh. Anstatt Thiers in Versailles gefangen zu nehmen, setzte das Zentralkomitee Wahlen zum Kommunerat an. Angesichts einer radikalen Mehrheit zogen sich die Vertreter der bürgerlichen Stadviertel aus dem Kommunerat zurück. Die politischen Debatten in Paris gingen zunehmend über Fragen der Selbstverwaltung der Stadt hinaus - es ging um soziale Veränderungen. Der Versuch eines Putschs von Royalisten und Anhängern Versailles, bei dem am 22. März versucht wurde, das Rathaus zu stürmen, scheiterte kläglich. Danach 'igelten' sich die bürgerlichen Stadtviertel ein, viele ihrer Mitglieder der Nationalgarde setzten sich nach Versailles ab.

Bei Beginn der Kämpfe Anfang April zeigte die Regierung in Versailles, was nach einem Sieg geschehen sollte. Nach dem gescheiterten Versuch der Pariser Nationalgarde das Fort Mont Valerien zu erobern und nach Versailles zu marschieren, wurden gefangene Kommunarden - vor allem ihre Anführer - auf der Stelle  exekutiert. Das war das 'Vorspiel' zur folgenden 'Blutwoche' im Mai. Bismarck unterstützte Thiers, denn er fürchtete die soziale Revolution in Frankreich könne auf das gerade gegründete Deutsche Reich überspringen. Daher ließ er die in Sedan gefangene Armee Napoleons frei. Sie hatten zwar jede Schlacht verloren, aber die Soldaten wussten nicht, was in Paris vor sich ging. Ihre Offiziere achteten darauf, dass sie nicht in Kontakt mit den Kommunarden und ihren Ideen kommen.

Sacre Coeur 1964
"Während nach übereinstimmenden Zeugenaussagen die Mannschaften meist gleichgültig und mechanisch ans Werk gingen, verhielten sich die Offiziere (...) aufputschend, und zwar, je höher der Rang, desto erbarmunglsloser." (2 a) Sie wollten die vernichten, die Paris gegen die 'Preussen' verteidigt hatten. Sie konnten nur ihre Niederlagen vorzeigen. Versailler Greuelpropaganda tat ein Übriges und die Erschießung von Geiseln - vor allem des Bischofs von Paris - durch Kommunarden während der chaotischen letzten Tage im Mai, fachte den Hass der Regierungstruppen an. Im Ausland reagierte man schockiert auf das Massaker der 'Blutwoche', was die Regierung in Versailles unter Druck setzte. In London kam es Protestversammlungen, die Times berichtete Ende Mai 1871, in Paris hätten die Sieger "während der letzten sechs Tage Gefangene, Frauen und Kinder, erschossen erstochen und aufgeschlitzt...".  Am 2. Juni 1871 forderte dann das bürgerliche Blatt: Paris-Journal: "Laßt uns nicht mehr töten, nicht einmal Mörder und Brandstifter!" (3) 
 
Die wenigsten Touristen auf dem Montmartre wissen heute, dass die ab 1875 errichtete Kirche Sacre Coeur vor allem als Mahnmal und 'Sühne' für die 'Verbrechen der Commune' gedacht war. Die wuchtige marmorne Kirche im 'Zuckerbäckerstil' sollte den Besiegten die 'Sünde' gegen die 'Ordnung' von Kirche und bürgerlichem Staat dokumentieren. Für die tausenden ermorderten Arbeiter, Handwerker - Frauen, Männer, Alte und Kinder - gibt es, abgesehen von der Mauer der Föderierten - bis heute in Paris keinen Gedenkort.  

Mit der Diktatur der Partei zum Sieg des Sozialismus?

Die Commune erscheint heute weitgehend vergessen - daran tragen die späteren 'Gralshüter' des autoritären Kommmunismus einen Großteil der Verantwortung. Von Karl Marx über Friedrich Engels bis zu Lenin und Mao nutzten sie das Geschehen für ihren Kampf um politische Macht  - die historische Wahrheit war nicht so wichtig. Während August Bebel am 25. Mai 1871 für die Sozialdemokraten im Berliner Reichtag deklamierte: "Seien sie überzeugt, das ganze europäische Proletariat und alles, was noch ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit in der Brust trägt, sieht auf Paris." (4), war für den Anarchisten Michael Bakunin die Commune Ausdruck der "spontanen und andauernden Aktion der Massen, der Gruppen und Volksvereine" (5). Friedrich Engels schrieb 20 Jahre nach der Commune in seinem berühmten Vorwort zur Neuauflage von Marx  "Der Bügerkrieg in Frankreich":  „Der sozialdemokratische Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten beim Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht Euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“ Dabei ging es Engels mehr um die tagesaktuellen Auseinandersetzungen in der deutschen Sozialdemokratie und weniger um die Wirklichkeit der Commune. 

Auch Lenin bemächtigte sich der Commune und schrieb nach der Oktoberrevolution im Januar 1918: „Die Pariser Proletarier hatten keinen Apparat, und das Land verstand sie nicht. Wir dagegen fanden sofort eine Stütze in der Sowjetmacht…“ Hermann Duncker, Mitgründer des Spartakusbundes und der KPD betonte 1931 „Es ist kein Zufall (…) das Lenin nach Marx und Engels der einzige war, der aus der Kommune die entscheidenden Politischen Erkenntnisse gezogen hat. So haben denn auch die Bolschewiki der Kommune das herrlichste Denkmal 1917 in der Errichtung der Sowjetrepublik – des Staates vom Typus der Pariser Kommune (Lenin) – gesetzt.“ Ein alter Bolschewik erinnerte sich: "In jenen Augenblicken sagten wir: 'Arbeiter, seht auf das Beispiel der Pariser Kommunarden und wißt, wenn wir besiegt werden, dann wird uns unsere Bourgeoisie hundertmal  schlimmer behandeln." (6) Für Trotzki beging die Commune den entscheidenden Fehler: "dem weißen Terror der Bourgeoisie nicht mit dem rotem Terror des Proletariats" begegnet zu sein. (7) 

Die blutigen Lehren der Uneinigkeit innerhalb der Commune nutzte Lenin, nach der Oktoberrevolution jede Opposition - auch in der Partei - mit der Notwendigkeit des 'Kriegskommunismus' gegen die Konterrevolution zu unterdrücken. Das damit verbundene Fraktionsverbot blieb auch nach dem Ende des Bürgerkrieges in der Partei Gesetz und verhalf so Stalin an die Macht. In der Folge war der 'demokratischen Zentralismus' in der Partei bestimmend, die Minderheit musste die Linie der Mehrheit öffentlich vertreten. Faktisch bedeutete dies das Ende jeder offfenen Debatte in der Partei. Auf die wirtschaftlichen Misserfolge nach dem Sieg im Bürgerkrieg reagierte man ebenfalls mit autoritären Methoden. Vermeintliche Verräter und Renegaten waren Schuld am Scheitern, dieses System sollte sich unter Stalin mit den Schauprozessen 1937 perfektionieren. Mitte der 1960er Jahre forderte Mao Tse Tung während der sogenannten 'Kulturrevolution' Basisdemokratie im Sinne der Commune. In Wirklichkeit ging es ihm darum, seine Herrschaft über Partei und Staat zu sichern. Als Im August 1968 das ZK der KPCh den Beschluss fasste: „Es ist notwendig, ein allgemeines Wahlsystem ähnlich dem in der Pariser Kommune einzuführen…“ Die „Massen“ seien demnach berechtigt „jederzeit zu kritisieren“ (8) und unfähige Kader abzuberufen, war dies nur Ausdruck des internen Machtkampfes.

Commune - Das Proletariat an der Macht?


Die Wirklichkeit der Commune von Paris unterschied sich von den Darstellungen der Theoretiker und Ideologen des Kommunismus. Sie instrumentalisierten die Taten und Fehler der Kommunarden für die in ihrer Zeit aktuellen politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Linken.

„Die Männer und Frauen der Pariser Kommune sind die Martyrer und Heiligen des Kommunismus geworden (…)“ sie wirkten wie die Christen „weniger durch ihre Taten, als vielmehr durch ihr Leiden und durch ihren Tod (...). Die Kommune selbst war durch Meinungsverschiedenheiten gespalten; die bürgerlich-gemäßigten Mitglieder traten sehr bald zurück, aber auch unter den verbliebenen Liberalen und Sozialisten herrschten Spannungen, die am 15. Mai durch die ‚Erklärung der Minderheit’ besonders deutlich wurden. (...) Die Herrschaft der Kommune war niemals das, was sie sein wollte: was als kommunalpolitisches Reformprogramm oder als Verwirklichung einer sozialistischen Utopie, als Machtergreifung der Arbeiterklasse oder nationale Renaissance gedacht war, wurde durch den Zwang der Umstände zu einer Kette von – zuweilen widersprüchlichen - Notverordnungen und Improvisationen; welche Taten den Worten gefolgt wären, lässt sich nicht abschätzen.“ (9)

Karl Marx kritisierte die Fehler der Commune in der wenige Monate nach der Niederschlagung veröffentlichten Schrift: "Der Bürgerkrieg in Frankreich". Er beurteilte in seiner Schrift die Commune als neue "Gesellschaft in ihren Geburtswehen (...) eine Revolution gegen den Staat selbst (...) um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen." Abschließend schreibt Marx: "Das Paris der Arbeiter, mit seiner Kommune, wird ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft, Seine Märtyrer sind eingeschreint in dem großen Herzen der Arbeiterklasse." Zehn Jahre später beurteilte er die Commune in einem persönlichen Brief an einen niederländischen Genossen nüchterner. Die Commune sei "in keiner Weise sozialistisch und konnte es auch nicht sein. Mit ein wenig gesundem Menschenverstand hätten sie jedoch mit Versailles einen Kompromiss erzielen können, der für die gesamte Masse der Menschen nützlich ist - das einzige, was zu dieser Zeit erreicht werden konnte. Die Aneignung der Bank von Frankreich allein hätte ausgereicht, um alle Ansprüche der Versailler auf Terror usw. usw. aufzulösen." Öffentlich machte er das nie. 

Rathaus und Zentrale der Commune

 

Was bleibt? 

Das revolutionäre Paris war nach dem blutigen Ende der Commune zerschlagen, die Royalisten von Thiers bis MacMahon, konnten sich aber nicht lange an der Macht halten. Zehn Jahre später waren sie Geschichte und die Schreckenstage der Commune und der Blutwoche sollten vergessen werden. Man brauchte die Loyalität der Arbeiter für den französischen Kolonialismus und den Kampf für Revanche gegen Deutschlands Machtstreben. In Deutschland setzten die Sozialdemokraten auf den Wahlzettel und nicht die Revolution. In Frankreich und Deutschland gewannen der Nationalismus und der Chauvinismus immer mehr Einfluss auch auf die Arbeiter. Dafür sollten sie im Krieg 1914-1918 bitter bezahlen - Internationalismus war Vergangenheit. Revolutionsversuche in den besiegten Staaten endeten nach 1918 - wie die Commune - mit blutigen Niederlagen. 

Nur die Oktoberrevolution in Russland siegte, zeigte bald aber ihre autoritäres und brutales Gesicht. Der Terror ging eben nicht mit dem Sieg Lenins und der Bolschewiki über die Konterrevolution zu Ende. Leo Trotzki war 1921 für die blutige Niederschlagung des Aufstands der Matrosen der Festung Kronstadt bei St.Petersburg gegen die bolschewistische Diktatur verantwortlich. Die Revolution fraß ihre Kinder... Bis 1989 intonierte man in der DDR das Kampflied der SED: "Die Partei die Partei, die hat immer Recht". Keiner der Staaten, die sich an Lenins Modell orientierten, brachte Freiheit nach den Vorstellungen von Marx und Engels. Sie bestimmen aber das Bild, das wir heute von Sozialismus und Kommunismus haben.

Nach 150 Jahren Commune konstatieren Linke heute, Marx habe "in der historischen Kommune mehr ein Modell erblickt, als das er die Geschichte der Kommune hat schreiben lassen." Auch Lenin habe "sich nicht auf die tatsächliche Kommune, sondern auf die Interpretation von Marx und Engels bezogen". (10) Leider kommt diese Erkenntnis zu spät - die Pariser Frauen und Männer, die für Freiheit, Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit kämpften - wurden dem Vergessen preisgegeben. 

Dabei ist der Traum von Freiheit heute aktueller den je: Klimakatastrophe, Soziale Ungleichheit, Krieg, Rassismus. Aber die alten und autoritären Lösungsmodelle sind gescheitert und das zu Recht. Eugène Pottier, Transportarbeiter, Kommunarde und Dichter der 'Internationale' trifft es mit seinem Vers: "Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen können wir nur selber tun!" Die Commune bedarf keiner Ehrungen, Parteitage, Fanfaren, Aufmärsche und Fahnenwälder - sondern eigenständigem Handeln, Debatten, Diskussionen und Mut zu kritischem Denken. 

Paris Anfang 1990

 

(1) Alistair Horne, Paris ist tot - Es lebe Paris, Scherz-Verlag 1967, S 384 ff

(2) Wolfgang Schivelbusch "Die Kultur der Niederlage", Fischer Taschenbuch 2003, S. 135 ff 

(2a) Schivelbusch a.a.O

(3) Horne a.a.O

(4) Hartig-Hartig, "Die Pariser Kommune" Klett Verlag 1975 S. 68 

(5) Hartig s. 82

(6) Horne a.a.O. S. 398 ff

(7) Horne a.a.O.

(8) Hartig a.a.O

(9) Helmut Swoboda: "Die Pariser Kommune 1871 in Dokumenten" (dtv 1971) S 13ff 

(10)  Florian Grams "Die Pariser Commune".Papyrossa Verlag 2021 

Literatur: 

Florian Grams "Die Pariser Kommune", Papyrossa Verlag 2021

Detlef Hartmann, Christopher Wimmer, "Die Kommunen vor der Kommune 1870/71", Assoziation A, 2021

Thankmar von Münchhausen: "72 Tage" Deutsche Verlags Anstalt 2015

Alistair Horne "Paris ist tot - Es lebe Paris", Scherz-Verlag 1967

Helmut Swoboda Hrsg "Die Pariser Kommune 1971" in Dokumenten, Deutscher Taschenbuch-Verlag 1971

Hartig-Hartig: "Dei Pariser Kommune 1871" Klett Verlag 1975 

Karl Marx: "Der Bürgerkrieg in Frankreich" Peking 1972

Lenin: "Über die Pariser Kommune" Dietz-Verlag DDR 1971

Pjotr Lawrow, "Die Pariser Kommune - Geschehnisse, Einfluss, Lehren" Unrast-Verlag 2003

Alltag der Pariser Kommune - Auf den Barrikaden von Paris. Fotos, Karrikaturen PLakate, Elefanten Press Berlin/Hamburg 1978

Youtube: 

TV-Dokumentarspiel: Journal 1870/71, Süddeutscher Rundfunk SDR1971 - Pariser Commune Aufstand: https://www.youtube.com/watch?v=-kAkE2mI1KY siehe auch https:https://medienfresser.blogspot.com/2020/09/187071-arte-zeigt-deutsche-dokus-tv.html//www.blogger.com/blog/post/edit/3982236135803086246/6496380571744240841

Arte: Im Jahr 2000 drehte der britische Regisseur Peter Watkins mit Laiendarstellern ein zweiteiliges Drama-Reanactment der Tage der Commune. Er wurde international bekannt, als er 1964 einen Film über die Schlacht bei Culodden in Schottland im 18.Jahrhundert mit Laien drehte. An ihm orientierten sich auch die Macher des deuschen "Journal 1870/71 Leider ist Watkins Film über die Commune auf youtube nur auf Französisch abrufbar. https://www.youtube.com/watch?v=0DI4EQxSFvY

Arte 2021 https://www.youtube.com/watch?v=R_U8wcQ0E1Y

Film: 1929 wurde in der Sowjetunion der Stummfilm "Das neue Babylon" über die Commune gedreht. Im Jahr 2006 strahlte in der Kulturkanal ARTE aus. Wikipedia-Eintrag: https://de.wikipedia.org/wiki/Das_neue_Babylon

Film: Der Dänische Spielfilm "Babettes Fest" ist indirekt mit der Commune verbunden - die Hauptfigur ist eine aus Paris geflohene Köchin,die nach der Niederschlagung der Commune nach Dänemark geflohen ist. Ein anrührender Film mit Stéphane Audran in der Hauptrolle:   https://de.wikipedia.org/wiki/Babettes_Fest

Schmetterlinge https://www.youtube.com/watch?v=TnzKjA2LMeY&t=2726s

Oktober:  https://www.youtube.com/watch?v=A94_VzEMAfs&list=RDA94_VzEMAfs&start_radio=1

Musikprojekt 2021 https://www.youtube.com/playlist?list=PLljGboDJFkgRRIdV6jk_7gaM5pz2MUf5f