Mittwoch, 21. Juni 2017

Flüchtlinge auf Chios 2017 - Europa lässt die Menschen im Stich




Der 20. Juni 2017 sollte in Geschichtsbüchern als Ende des europäischen Humanismus im 21. Jahrhundert vermerkt werden. Der von der UN an diesem Datum ausgerufene Weltflüchtlingstag ist zum Symbol der Heuchelei geworden.




Volissos Juni 2017
 „Ihr fahrt nach Chios? Da liest man doch so viele schlimme Sachen über die Flüchtlinge und die Auseinandersetzungen mit den Griechen!“ Das sagte mir Anfang Mai 2017 eine gute Freundin, als ich Ihr erzählte, dass wir – wie immer seit zehn Jahren – unseren Urlaub in einem kleinen Dorf im Nordwesten der Insel Chios verbringen werden. Für uns ist das kein Widerspruch, denn wir verschließen nicht die Augen vor der schwierigen Situation, die Inselbewohner wie Asylsuchenden immer mehr unter Druck setzt. Wir wollen uns nicht nur erholen, sondern von unseren Freunden auf der Insel erfahren, wie sie die Entwicklung beurteilen.

Katzen: im Dutzend billiger!








Was wir zu hören bekamen zeigte uns, wie eine Gesellschaft unter dem massiven Druck einer nicht Enden wollenden Wirtschaftskrise und der aussichtslosen Situation der Flüchtlinge schrittweise zerbricht. War vor drei Jahren noch die Einstellung unserer Freunde hauptsächlich von Solidarität und Mitleid für die Asylsuchenden geprägt, hörten wir diesmal oft ein Mix aus Vorurteilen und Ressentiments. „Der Islam will uns überrollen, das kann man doch überall sehen“, fürchtet sich eine Lehrerin, „Die Saison können wir völlig abschreiben, Touristen verlassen die Hotels, wenn dort Flüchtlinge wohnen und in ihren Räumen zu Allah beten“, behauptete ein Freund, der Zimmer auf der Insel vermietet. Noch vor einem Jahr hatte er nach einem Besuch des Flüchtlingslagers, in dem viele Kinder in Zelten im Schlamm leben mussten, spontan zwei Familien für einige Zeit in seinen Appartments untergebracht.


Ein inselbekannter Hotelier ließ der Neonazipartei Chrysi Avghi (Goldenen Morgenröte) Räume in seinem renommierten Hotel für eine Veranstaltung vermieten. Zunehmend gab es im letzten Jahr Angriffe auf Flüchtlinge. So wurden etwa von der Mauer der Zitadelle Steine und Brandflaschen auf das darunter liegende Flüchtlingscamp geworfen. Mitte Juni demonstrierten etwa 400 Inselbewohner am Stadtpark gegen die geplante Einrichtung eines weiteren Lagers für
Ein Platz für Flüchtlinge?!
Flüchtlinge. Es sollte eigentlich im Süden der Insel errichtet werden, als die Container dort hingebracht wurden, machten Anwohner die zentrale Verbindungsstraße unpassierbar. Nun soll das Lager für abgelehnte Asylbewerber in einer dünn besiedelten Region im Nordwesten gebaut werden. Weit von jeder Siedlung entfernt soll es auf einem karstigen Hochplateau entstehen - heiß im Sommer und regnerisch-kalt im Winter. Das Ziel ist klar: Abschreckung - denn die Flüchtlinge auf der Insel halten Kontakt mit anderen auf dem türkischen Festland. In der Folge ziehen sich auf Chios arbeitende Nichtregierungsorgranisationen teilweise zurück, sie haben ohnehin keinen freien Zugang zum Hauptlager im Südosten der Insel. Dort regiert die Polizei und was hier geschieht, erfährt die Öffentlichkeit nicht. Waren kürzlich noch freiwillige Ärzte für die Versorgung zuständig, wurden sie jetzt durch Militärärzte ersetzt.  





Gesehen 2016 am Hafen von Chios
„Die Leute diskutieren hier nicht mehr, sie schreien sich nur noch an. Es gibt keine humanen Werte mehr in dieser Debatte“, meint resigniert ein Inselbewohner, der einst ins deutschsprachige Ausland ging, um dort zu studieren. Im Sommer vermietet er mit seiner Frau kleine Studios an Touristen, die oft schon jahrzehntelang kommen. Aber auch hier gab es einige, die ängstlich wurden und 2017 ihren Besuch stornierten. Wer für eine Flüchtlingsorganisation arbeitet, über den werden böse Gerüchte gestreut wie: „Der verdient da 3000 Euro im Monat und will jetzt auch noch Flüchtlinge in unserem Dorf ansiedeln“. In der Inselhauptstadt wurden mittlerweile Mitarbeiter von NGO's auch bedroht und angegriffen.

Vielen Inselbewohnern dienen die Probleme mit den Flüchtlingen als Blitzableiter für die insgesamt verfahrene wirtschaftliche Lage und ihren Frust, da sich nichts bessert. Da wirkt es, wie Öl ins Feuer gießen, wenn vor allem junge männliche Flüchtlinge zunehmend aggressiv auftreten. Sie setzen sich per Faustrecht im faktisch rechtlosen Raum der Lager durch, es kommt zunehmend auch zu Konflikten mit Anwohnern. Die Flüchtlinge sehen Chios als Sackgasse auf ihrem Weg nach Nordeuropa, die Griechen fühlen sich von der Regierung in Athen und von den reichen Staaten Nordeuropas im Stich gelassen – und das zu Recht.



Aber mit den Wahrheiten ist das so eine Sache, so spricht kaum jemand darüber, dass mancher auf der Insel von der Lage auch profitiert: „Es gibt hier schon einige Hoteliers, die gut an den von EU, Frontex, Polizei und UN entsandten Mitarbeitern verdienen.“ Einige Hotels waren im Winter gut gebucht, die Preise hatten das Niveau der Hauptsaison. Die Flüchtlinge müssen auch mit Essen und Trinken versorgt werden: "Viele Bäckereien machen guten Umsatz", räumt ein Gewerbetreibender in der Inselhaupstadt ein - Immerhin müssen täglich etwa 3500 Menschen versorgt werden. 

Insgesamt geht es nicht allen Chioten schlechter: „Die wirtschaftliche Entwicklung der Insel hat sich eigentlich verbessert und der Fremdenverkehr spielt auf Chios, verglichen mit anderen Inseln der Ost-Ägäis, keine so große Rolle",  betont eine Bekannte, die in der Branche arbeitet. Immerhin ist Chios als fünftgrößte Insel Griechenlands eine wohlhabende Region, viele der berühmten Reederfamilien haben hier ihre Wurzeln. Tausende Chioten wanderten im 20. Jahrhundert aus - vor allem in die USA und nach Australien. So mancher hat aber die alten Häuser der Familie auf der Insel behalten, im Sommer hört man an den Stränden einen Sprachmix aus Griechisch und Englisch. Vor allem ehemalige Seeleute verbringen ihren Lebensabend in der alten Heimat. Reiche Chioten bevorzugen die Nachbarinsel Inousses: "Da gibt es natürlich keine Flüchtlingslager" sagt unsere Freundin und lächelt vielsagend.



Zerstören die Flüchtlinge den Tourismus?


Ruinieren die Flüchtlinge also den Fremdenverkehr auf der Insel, wie es manche unserer Freunde behaupten? Die Realität ist komplizierter:"Viele der Probleme des Tourismus auf Chios sind hausgemacht", betonen Insider. Mangelhaften Planung und Koordination, lange bevor die ersten Flüchtlinge kamen, bestimmten die Situation. Und hinter vorgehaltener Hand wird kritisiert, es säßen nicht unbedingt die fähigsten Leute an den Schalthebeln der Tourismusverwaltung. Ähnliche Erfahrung machten auch wir bereits 2011 bei den Recherchen für unseren Reiseführer (Müller-Verlag). „Die verschiedenen Machtgruppen der Insel wollen alle ein Stück vom Kuchen und sie torpedieren lieber eine gute Idee, als dass ein Konkurrent mehr abbekommt,“ schimpft ein Vermieter, der die Szenerie kennt. So wurden Stände auf Tourismusmessen in Deutschland gebucht, ohne dass ein Konzept für die Öffentlichkeitsarbeit vorlag. Nie war es möglich, dort Pressekonferenzen oder PR-Events zu organisieren, da in der Regel erst kurz vor Messebeginn geklärt werden konnte, ob Chios vertreten sein wird. Wir entdeckten mehr durch Zufall eine deutschsprachige Werbebroschüre der Tourismusverwaltung, deren Übersetzung wohl per google-translate vorgenommen wurde. Dabei waren wir dort bekannt, aber keiner bat uns um Hilfe. Diese Peinlichkeit konnte gerade noch vor einer Messe aus dem Verkehr gezogen werden, das Geld dafür war verschwendet worden.

Im Juni konnte man auf einem Onlineportal erfahren, dass ein Verantwortlicher der Inselverwaltung auf Kreuzfahrt-Tourismus als Einnahmequelle setzt. Wie sieht die Wirklichkeit aus? Ein Schiff mit 4000 Touristen legt für acht Stunden im Hafen der Hauptstadt an. Das wirtschaftliche Prinzip der Veranstalter lautet: Die Passagiere geben ihr Geld bei uns aus! Wer all-inclusive lebt, lässt bei einem Bummel in der Hauptstadt höchstens ein paar Euro für einen Snack oder Souveniers hier. Einige Busunternehmen und Taxis machen den schnellen Euro mit Touren zu den Sehenswürdigkeiten der Insel - zur Essenszeit am Abend sind alle wieder brav an Bord. Dann legt das Schiff ab und fährt zur nächsten Insel – sehr fraglich, ob von ihnen einer sein Herz für Chios entdeckt hat und wiederkommt. Vor ein paar Jahren geisterte die Schnapsidee durch die Köpfe der politisch Verantwortlichen, einen eigenen Groß-Anleger für Kreuzfahrtschiffe außerhalb des Hafens zu bauen – glücklicherweise wurde nichts daraus.



Das größte Problem für Touristen ist, dass der Flughafen zu klein ist, direkt kann man die Insel aus Deutschland oder Österreich nicht anfliegen und das hält Leute vom Besuch ab, wie ich auf Messen immer wieder zu hören bekam. Nun soll der Flughafen ausgebaut werden – aber das löst nur eines der Probleme. Das Tourismuszentrum der Insel, der Ort Karfas, ist eine chaotische Ansammlung von Hotelanlagen an einer Steilküste mit schmalem Sandstrand. Hier wurden Hotels und Appartementanlagen planlos an den Hang gesetzt. Am Strand verschandelt seit Jahren die Ruine einer geschlossenen Großtaverne die Aussicht, daneben verrottet ein alter Bau, der renoviert durchaus ein Schmuckstück sein könnte. Es gibt nur eine kleine Strandpromenade, wer die Küste entlang wandern will, muss auf die Fahrstraße ausweichen – es wurde nie ein regionalplanerisches Gesamtkonzept entwickelt.

Endlich wieder ein Insel-Kino
Aber es gibt Lichtblicke: Seit Jahren arbeitet ein befreundeter Grieche an den alten Handelswegen, die noch aus byzantinischer und osmanischer Zeit stammen. "Das machen wir alles selbst mit Freiwilligen, auf die staatlichen Stellen darf man nicht setzen, denen geht es nur um ihre eigenen Interessen", wettert Georgios, der lange in Deutschland als Lehrer gearbeitet hat. Junge Leute nutzen die digitalen Medien, um für Chios zu werben, überall gibt es kulturelle Events für die Inselbewohner. Erstmals seit vielen Jahren wurde wieder in der Inselhauptstadt ein Kino eröffnet. Kulturelle Aktivitäten gibt es in den kleinsten Orten, sie entstehen oft auf Initiative einzelner. So wie bei der Lehrerin, die in Volissos mit gerade mal  300 Einwohnern ihre Schüler dazu brachte, das Molière-Stück: "Der Bürger als Edelmann"  einzustudieren und es dann auf dem Dorfplatz aufzuführen. 

Spezielle Reiseagenturen und Anbieter von restaurierten Dorfhäusern werben um Touristen, die Ruhe, Natur und griechisches Lebensgefühl suchen. Diese Menschen sind es, auf die wir die Hoffnung setzen, dass Chios nicht zu einer Touristen-Fabrik wie Rhodos oder Kreta degeneriert. Aktuell hält man sich auf der Insel vor allem mit Besuchern der nahegelegenen Türkei über Wasser, per Fähre kommen vor allem Wohlhabende zu einem Wochenendtrip auf die Insel - seit ein paar Jahren findet man an Restaurants auch türkischsprachige Speisekarten. "Klar, der Putschversuch und Erdoghan haben die Situation nicht einfacher gemacht, aber ohne die Gäste vom Festland wären wie schon längst am Ende", sagt eine Tavernenbesitzerin im Süden der Insel. Stolz sind wir auf die Freunde, die sich trotz aller Angriffe weiterhin für Flüchtlinge engagieren - sei es als Anwalt oder als Betreuer eines Flüchtlingscamps.

 

Europa muss aufhören wegzusehen!



Antihumanistischer Schutzwall Europas
Hauptverantwortlich für die Lage auf Chios sind aber wir, die Staaten Nordeuropas. Wir wehren uns mit allen Mitteln – auch unsauberen – gegen die Aufnahme weiterer Flüchtlinge und pferchen sie auf den Ägäis-Inseln in unmenschliche Lager. Die Bundesrepublik bremst die Zusammenführung getrennter Familien und die griechischen Behörden verschleppen deshalb die Bearbeitung der Anträge. Der Deal mit Athen ist offensichtlich: Wir kommen Euch bei den Schulden entgegen und Ihr haltet uns die Flüchtlinge vom Hals – zumindest bis nach der Bundestagwahl im September 2017 



Die 12 Millionen Flüchtlinge und Millionen ‚displaced persons’ die nach 1945 ins zerstörte Rest-Deutschland kamen, wurden auch nicht mit offenen Armen empfangen. Aber damals herrschte überall Zerstörung und Mangel. Und Heute? Die wirtschaftlich prosperierenden Länder Europas wählen die Barbarei, um Menschen abzuhalten, die ihre Chance auf Glück und ein menschliches Leben suchen. Die Banken und ihre faulen Kredite sind für uns wertvoller, als Menschlichkeit.



Und wir sollten gewarnt sein, so wie unsere Gesellschaft und ihre politischen Führer mit den Asylsuchenden umgehen, so machen sie es auch mit den Armen im eigenen Land. Gerade das Beispiel Großbritannien zeigt, wie sich reiche Gesellschaften gegenüber Schwachen auch ideologisch barbarisieren. Bei uns terrorisiert das Hartz-IV-System die Ausgesonderten - aber wen kümmert es? Lieber macht man bei uns die Flüchtlinge für die Versäumnisse unserer Regierung verantwortlich. Griechenland, deren Reiche unverdrossen mit Hilfe internationaler Banken ihre Schäfchen ins trockene bringen, ist überall!




Aber: Im Oktober werden wir wieder nach Chios reisen, uns mit unseren Freunden streiten und feiern, ihre Gastfreundschaft genießen und die Schönheit der Insel. 

FORTSETZUNG: https://medienfresser.blogspot.de/2017/10/chios-herbst-2017.html