Dienstag, 29. November 2011

Jüdisches Thessaloniki - "Die Mutter Israels"


Wer heute die zweitgrößte Stadt Griechenlands - Thessaloniki - besucht, kann sich kaum vorstellen, dass Griechen bis 1912 hier nur eine Minderheit waren. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts lebten in der damals zum Osmanischen Reich gehörenden Stadt etwa 70 000 Juden - rund die Hälfte aller Einwohner. Griechen waren, wie andere ethnische und religiöse Bewohner des Osmanischen Reiches, nur eine Gruppe im multikulturellen Saloniki.
Dem Archäologischen Museum ist es jetzt zu verdanken, dass seit September 2011 ein Jahr lang in einer Ausstellung an das einst vielfältige jüdische Leben der Stadt vor 1943 erinnert wird. Thessaloniki war, seit der Gründung vor über 2300 Jahren, immer auch Treffpunkt unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Jeder gab der Stadt einen eigenen Namen, die Griechen Thessaloniki, die Türken Selanik und die Juden Salonika. Am Fuße des 1200 Meter hoch gelegenen Chortiatis-Berges, ist die Stadt mit heute 300 000 Einwohnern und einem Einzugsgebiet von einer Million Menschen nach Athen die zweitgrößte Stadt Griechenlands. Sie ist vor allem das wichtigste Wirtschaftszentrum des Landes.
Wirtschaft und Handel prägten Thessaloniki seit Jahrtausenden, denn hier verlief der antike Handelsweg „Via Egnatia“. Er verband einst Nordeuropa und den Balkan mit Byzanz – dem heutigen Istanbul – und dem Orient. Gegründet wurde Thessaloniki im Jahr 315 vor unserer Zeitrechnung durch den makedonischen König Kassandros. Er benannte die Stadt nach seiner Frau, Thessalonike, einer Halbschwester Alexanders des Großen. Nach der Teilung des Römischen Imperiums im Jahr 395 nach Christus wurde Thessaloniki dann Teil des Oströmischen Reiches, das vom Kaiser in Konstantinopel regiert wurde. Von dessen einstiger Macht künden heute noch in Saloniki die Ruinen großer römischer Bauten im Stadtzentrum.

Jüdisches Leben seit dem Altertum


Wann genau die ersten Juden nach Thessaloniki kamen, lässt sich nicht genau sagen. Aber bereits 145 v. Christus lebten hier so genannte Romanoiten. Später kamen im 14. und 15. Jahrhundert Juden aus Deutschland, Ungarn und der Provence in die Stadt. Nachdem der spanische König 1492 alle Juden des Landes verwiesen hatte, siedelten sich etwa 20 000 sefardische Juden, auf Einladung des Osmanischen Sultans, in Thessaloniki an. Dadurch entwickelte sich die Stadt später zu dem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit in Europa. Der Dichter Samuel Usque (1500-1555) nannte die Stadt deshalb: „Die Mutter Israels“. Die Sefarden in Salonika sprachen über die Jahrhunderte das vom Spanischen und Portugiesischen geprägte „Ladino“. Die erste Druckerei wurde hier bereits 1506 von zwei Sefarden gegründet. Zwischen 1865 und 1920 erschienen alleine in Thessaloniki rund 40 verschiedene jüdische Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahr 1931 erreichten die jüdischen Tageszeitungen Salonikas eine tägliche Auflage von 25 000 Stück.

Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es in der Stadt etwa 50 verschiedene Synagogen, heute existieren noch zwei davon für die etwa eintausend Köpfe zählende Gemeinde, Die meisten der jüdischen Einwohner waren arme Handwerker, Hafenarbeiter oder Fischer. Einige Familien kamen durch Handel und Industrie zu Wohlstand und ließen sich Ende des 19.Jahrhunderts repräsentative Villen am Stadtrand errichten. Viele Häuser stehen heute noch und werden öffentlich genutzt, aber kaum jemand kennt noch ihre jüdische Geschichte.
Nach der Niederlage der Osmanen im ersten Balkankrieg (1912) endete die Herrschaft des Sultans über Nordgriechenland. Am 26.Oktober 1912 erreichten griechische Truppen Thessaloniki, nur wenige Stunden vor den Verbündeten Bulgaren. Nach dem es zwischen den Verbündeten ein Jahr später zum zweiten Balkankrieg (1913) kam, der für Bulgarien mit einer Niederlage endete, wurden Thessaloniki und weite Teile Makedoniens Griechenland zugesprochen. Nach der Eroberung verließen nicht nur die meisten Türken die Stadt –1881 war hier Kemal Atatürk zur Welt gekommen - auch ein Teil der jüdischen Bevölkerung ging mit ihnen.

Der verheerende Brand von 1917


Während des Ersten Weltkrieges brach im August 1917 im jüdischen Viertel in der Altstadt ein verheerendes Feuer aus. Hier lebten damals viele Kriegsflüchtlinge und in einer der beengten Unterkünfte brach damals das Feuer aus. Es fehlte Löschwasser und so verloren etwa 50.000 Juden ihr Heim, denn erst nach 32 Stunden konnte der Brand gelöscht werden. Nachdem über ein Drittel des damaligen Stadtgebietes zerstört waren, beauftragte die griechische Regierung den französischen Architekten Ernest Hébrard damit, die Innenstadt neu zu errichten. Er ließ Prachtbauten im Art-Deco-Stil und breite Boulevards bauen und so erinnert die Innenstadt noch heute an das Pariser Vorbild.
Die jetzt obdachlosen jüdischen Innenstadtbewohner siedelte man in Randbezirken neu an.

War das Verhältnis zwischen orthodoxen Griechen und Juden nach 1912 schon nicht konfliktfrei, so verschärften sich diese nach Ende des Ersten Weltkrieges. Während in Nordeuropa der Frieden im November 1918 kam, versuchte die griechische Regierung ab 1919, große Teile des türkischen Festlandes zu erobern. So sollte etwa Smyrna (heute Izmir), mit seiner großen griechischen Bevölkerung, erobert werden – einige Politiker in Athen träumte gar von der "Befreiung" Konstantinopels (Istanbuls). Diese Pläne scheiterten an der von Atatürk organisierten türkischen Revolution und so vereinbarte man 1923 den Austausch der jeweiligen Bevölkerungsminderheit. In Folge dieser „kleinasiatischen Tragödie“, mussten etwa 1,5 Millionen Griechen in der Türkei und rund 500 000 Türken in Griechenland ihre Heimat verlassen. Für das im Ersten Weltkrieg verarmte Griechenland war das kaum zu bewältigen. Viele Flüchtlinge wurden in und um Thessaloniki angesiedelt. Viele von ihnen lehnten die Juden ab, sie sahen in ihnen Kollaborateure, die von den Osmanen bevorzugt behandelt worden seien. Die Spannungen führten dazu, dass in den 1920er Jahren viele Juden ihr Salonika verließen. Im Jahr 1931 kam es in einem Stadtteil zu antijüdischen Angriffen durch griechische Faschisten, darauf hin verließen weitere 15 000 Juden ihre Heimat.


Vernichtung der Jüdischen Gemeinde im Zweiten Weltkrieg


Trotzdem lebten bis 1941 weiterhin rund 56 000 griechische Juden in Thessaloniki. Mit dem Einmarsch Deutscher Truppen am 4. April 1941 begann sofort ihre Verfolgung. Ihnen wurde umgehend der Besuch von Cafes und Geschäften verboten.
Bundesarchiv, 183-R99237
Die deutschen Besatzer schürten antijüdische Stimmungen bei den Griechen, in dem sie die Juden für die verheerende Hungersnot 1941/42 verantwortlich machten. 


Am 11. Juli 1942 mussten sich, auf Anweisung der Besatzer, alle männlichen Juden zwischen 18 und 45 Jahren auf dem heutigen Elefterios (Freiheits) Platz sammeln.
11. Juli 1942 Elefterios Platz
 Bundesarchiv 101I-168-0894-20A
Dort standen sie stundenlang in der Sommerhitze und wurden von den Besatzern öffentlich gedemütigt - und das unter den Augen vieler deutscher und griechischer Zuschauer. Ab Februar 1943 mussten die Juden hier den gelben Stern tragen und sich rund um das Bahnhofsviertel in einem Ghetto ansiedeln. Von hier aus wurden sie zwischen März und August 1943 in insgesamt 19 Güterzügen in die Vernichtungslager nach Polen transportiert. Nach Auschwitz kamen 48 533 Deportierte, von denen sofort 37 386 in den Gaskammern ermordet wurden. 



Ein Deutscher Soldat schlägt einen Juden - und seine Kameraden amüsieren sich - Bundesarchiv, 101I-168-0895-07A

Claude Lanzmann produzierte 1985 den neunstündigen Dokumentarfilm "Shoah" über die Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkrieges. Im Film gibt es keine Foto- oder Filmdokumente über den Massenmord. Überlebende Opfer kommen zu Wort und hier findet sich auch eine Passage über die Vernichtung griechischer Juden in Auschwitz, die aus Thessaloniki und der Insel Korfu dort hin transportiert worden waren. 

Schwieriges Erinnern

 

 Die Verantwortlichen für die Vernichtung der griechischen Juden wurden später niemals zur Rechenschaft gezogen. So konnte sich der SS-Führer Alois Brunner (geb. 1912) nach dem Krieg nach Syrien absetzen und lebte unter der Assad-Diktatur unbehelligt in Damaskus. Der für Thessaloniki zuständige deutsche Kriegsverwaltungsrat Max Merten (1911-1971) kehrte sogar 1957 in die Stadt zurück, um vor Gericht für seinen einstigen Dolmetscher auszusagen. Er wurde zwar Verhaftet und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt – aber bereits nach einem Jahr nach Deutschland entlassen. Dort wurde ein Verfahren wegen Beihilfe zum Mord aufgrund der eingetretenen Verjährung im Jahr 1968 eingestellt.
heutiges Mahnmal
Heute findet man in Thessaloniki kaum etwas, was an die einst so lebhafte jüdische Gemeinde und an ihre Auslöschung erinnert. Nur am Freiheitsplatz, in der Nähe der alten Fischhallen, findet sich ein Denkmal. Es erinnert in Form eines jüdischen Leuchters an die Bewohner und ihr Schicksal. Die Stadt tut sich mit ihrem jüdischen Vermächtnis heute noch schwer. So befand sich auf dem Gelände der heutigen Universität auf 300 000 Quadratmetern ein jüdischer Friedhof mit etwa einer halben Million Gräber. Bereits nach 1912 hatte die griechische Stadtverwaltung Interesse an Teilen des Geländes für die Stadterweiterung geäußert. Es kam aber zu keiner Einigung mit der jüdischen Gemeinde.
Alliierter Soldaten vor einem deutschen Schützengraben, der mit jüdischen Grabsteinen ausgebaut worden war.
Anfang 1943 erteilten die deutschen Besatzer den Befehl zum Einebnung des über 500 Jahre alten jüdischen Friedhofes. Daran beteiligten sich auch griechische Kollaborateure, wie der Gouverneur Simonids. Vor allem die vielen Grabplatten aus Marmor waren begehrtes Baumaterial und wurden als Straßenbelag oder beim Hausbau verwendet.
Diese Zerstörungswut führte dazu, dass man heute nur noch im jüdischen Museum einige wenige, der teilweise mehrere hunderte Jahre alten Grabsteine sehen kann. Hier finden sich auch alte Fotografien vom Anfang des 20.Jahrhunderts, die Juden in ihren bunten Trachten zeigen. Einige der Fotos sind in Farbe, sie stammen aus der Sammlung der französischen Foto- und Filmstiftung Albert Kahns. (Der französische Unternehmer schickte bereits 1912 Fotografen nach Saloniki, die heute noch beeindruckende Farbaufnahmen machten - auf ARTE lief dazu 2011 eine wunderbare mehrteilige Dokumentation.)
Auch die Universität von Thessaloniki hält es bis heute nicht für nötig, an den einstigen jüdischen Friedhof zu erinnern, auf dessen Gelände ihre Gebäude stehen. Seit Jahren bittet die jüdische Gemeinde bisher vergeblich darum, die geplante U-Bahn Haltestelle an der Universität „Alter Jüdischer Friedhof“ zu nennen. Fragt man den Kurator des Jüdischen Museums von Thessaloniki, Evangelos Hekimoglou, warum sich Stadt mit ihrer jüdischen Geschichte so schwer tut, antwortet er diplomatisch: „Sie dürfen nicht vergessen, dass 90 Prozent der heutigen Einwohner keine Wurzeln in Thessaloniki haben, ja nicht einmal hier geboren wurden.“ Das Interesse an der Geschichte des Ortes insgesamt sei nur gering: „Deshalb wissen die meisten Leute hier nichts über die jüdische Vergangenheit ihrer Stadt.“ Er sei jedenfalls froh darüber, dass sich jetzt das Archäologische Museum dem Thema angenommen hat und meint, dies sei der Verdienst der Direktorin Veleni-Adam Polyxeni
Stolz auf ihre Heimat, der manchmal in Nationalismus umschlägt, spielen auch heute noch in Griechenland eine Rolle. Manche Griechen verdrängen lieber die Erinnerung daran, dass Thessaloniki bis 1912 alles andere als eine griechische Stadt war. Anscheinend gibt es immer noch Ängste bei den politisch Verantwortlichen der Stadt, von jüdischer Seite könnten Forderungen nach Entschädigung für den geschändeten Friedhof gestellt werden.

Wer sich mehr über das einstige jüdische Leben in Thessaloniki informieren will, sollte auf jeden Fall das 1997 eröffnete jüdische Museum im Stadtzentrum besuchen. Es liegt nicht weit entfernt von der schönen Hafenpromenade und dem Freiheitsplatz. www.jmth.gr/

Siehe Auch: http://www.sueddeutsche.de/politik/holocaust-ueberlebender-heinz-kounio-deutsch-hat-mir-in-auschwitz-das-leben-gerettet-1.2836262-2