Dienstag, 23. Dezember 2014

Ralph Giordano 1946


Ralph Giordano (Mitte) im Wohnzimmer meiner Oma 1946
Sommer 1946 - Hamburg liegt immer noch in Trümmern, britische Besatzungstruppen kontrollieren die Stadt. Ein wichtiger Schritt für den Wiederaufbau der Demokratie sind funktionierende Medien und so erscheint am 2. April 1946 unter britischer Aufsicht die Tageszeitung "Die Welt". Produziert von deutschen Journalisten, darunter mein Vater, Karl Heinrich Ressing *, soll die Zeitung vor allem ein Ort intensiver Diskussion werden. Deshalb wird Leserbriefen breiter Raum eingeräumt. Der Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels hatte nach der Machtübernahme Leserbriefe in deutschen Zeitungen generell verboten. Nach dem Ende der Naziherrschaft, wollten die Briten die Leser aktivieren, damit wollte man die demokratischen Erziehung im Nachkriegsdeutschland fördern. Für die Betreuung der Leser in der Welt waren als Redakteure Heinz Ressing und der spätere Manager des Axel-Springer Verlages, Christian Kracht zuständig.

An Resonanz bestand kein Mangel, vor allem junge Leute beteiligten sich mit Leserbriefen und Heinz lud einige zu Gesprächen in die Wohnungen seiner Mutter in der Magdalenenstrasse 22 im Stadtteil Pöseldorf an der Aussenalster ein. So traf sich im August 1946 eine Gruppe, zu der auch der der junge Ralph Giordano gehörte.

Ich schickte Giordano 1998 Kopien der dabei gemachten Fotos und er antwortete umgehend: "Mir ist jene Zeit vor nunmehr 50 Jahren und mehr noch in bester Erinnerung, wie auch Ihr Vater (...), der damals so etwas wie der Fixstern war, um den die Jüngeren, darunter auch ich, kreisten und zu denen Conrad Ahlers zählte und seine spätere Frau Heilwig von der Mehden, Christian Kracht und viele andere, die später von sich reden machten." Damals diskutierten in der Magdalenenstrasse Konservative, Liberale gemeinsam mit dem damaligen KPD-Mitglied Giordano: "Wir saßen noch alle an einem Tisch. Der Kalte Krieg und die Verhärtung der Fronten haben dieser Idylle bald ein Ende gesetzt." 

Die 'Welt' bekam später eine eigene Jugendseite, die "junge Welt" und die britischen Kontrolloffiziere genehmigten ihr eine Suchaktion, in der Bilder von Kindern veröffentlicht wurden, die während des Kriegsendes ihre Angehörigen verloren hatten. Aus den Erfahrungen mit der Welt-Jugendseite entstand die Idee eines Magazins für junge Leser, das ab Februar 1948 unter dem Namen "Benjamin" in die Kioske kam. 


Das Blatt sollte vor allem die 17- bis 30-Jährigen ansprechen, also die Generation der unter dem NS-Regime Aufgewachsenen. Die Redaktionsräume des Benjamins befanden sich unweit des Stephansplatzes, über dem Waterloo-Kino. Die Auflage in der britischen Zone lag bei 70 000 Exemplaren. Früh beschäftigte man sich mit NS-Verbrechen, so berichtete man vom SS-Mord an jüdischen Kindern, die kurz vor Kriegsende im Keller der Schule am Bullenhuser Damm erhängt worden waren. 

Ralph Giordano, Fritz Kempe, Karl-Heinz Ressing 1946
Im Juli 2013 fand ich noch ein paar Fotos, auf denen Giordano im Kreis um meinen Vater zu sehen war und schickte ihm Abzüge. In seiner Antwort erinnerte er sich an: "das kluge Gesicht ihres Herrn Vaters, Mittelpunkt und spiritus rector des 'benjamin'-Kreises, Redaktion in der Nähe des Gänsemarktes." Conrad Ahlers und Heilwig von der Mehden seien "sympatische Menschen" gewesen, über den Fotografen und späteren Leiter der Hamburger Landesbildstelle, Fritz Kempe erinnerte er sich eher negativ: "Er war belastet aus der Nazizeit, was aber erst später herauskam."   

Nachdenklich schloss Giordano seinen Brief: "1946 - was da alles noch vor uns lag. Und 2013 lebe ich immer noch, und sogar mit Harschopf... Die Gene haben es gut mit mir gemeint, dennoch, man wird nicht ungestraft 90"

Im Rahmen meiner Recherchen über die Geschichte meiner deutsch-französischen Familie beschäftigte mich natürlich die Kriegszeit besonders. Mein Vater arbeitet in einer Propagandakompanie der Wehrmacht. Im Bundesarchiv fand ich eine Broschüre, die er 1942 verfasst hatte. Unter dem Titel. "Jungarmisten der Weltrevolution" wurde hier mit der  kommunistische Jugendarbeit 'abgerechnet'. Heinz wusste, worüber er schrieb, war er doch 1932 Mitglied einer KPD-nahen Studentengruppe gewesen. Zu der Broschüre meinte er später, der Text sei ohne sein Wissen inhaltlich "verschärft" worden, sein Protest bei Vorgesetzten habe aber nichts genutzt. Welche Textteile er damit meinte, weiß ich nicht. Besonders widerlich ist im Kontext mit dem wirklichen Ereignissen eine Passage über die 'Befreiung' der lithauischen Stadt Kaunas (Kowno) durch die Wehrmacht im Sommer 1941. Demnach hätten die Einwohner der Stadt über den Einmarsch der Wehrmacht beglückt reagiert.

Massaker von Kowno/Kaunas Quelle Bundesarchiv
Unerwähnt blieb, dass es am 28. Juni 1941 im Zentrum von Kaunas zu einem Massaker an Juden kam. Dabei erschlugen lithauische Nationalisten auf offener Straße Männer und Frauen. Wehrmachtssoldaten sahen zu und machten ungerührt  Fotos. Ende der 1970er Jahre erwähnte mein Vater, er sei damals mit seiner Einheit dort vorbeigekommen. Er sei zu seinem Divisionsstab gefahren, um dies zu melden. Einzige Reaktion: "Das ist Sache der Einsatzgruppen". Dies waren  Mordkommandos der SS, die hinter der Front Juden und vermeintliche Kommunisten liquidierten - oder wie in Kaunas dies nationalistischen Einheimischen überließen. Obwohl Mein Vater später immer wieder von seiner Kriegszeit erzählte, hat er dieses Erlebnis bis in die 1970er Jahre nie erzählt.


Hatte er nach Kriegsende im Benjamin-Kreis darüber gesprochen? Ich fragte Giordano im September 2013 in einem Brief, ob er sich erinnern konnte, dass mein Vater darüber gesprochen habe. Giordano reagierte betroffen, das Thema der Verdrängung hatte ihn sein Leben lang beschäftigte: "Nach dem, was ich jetzt aus Ihrer Feder über Heinz Ressing lese, ist es das Übliche - Verdrängung. Eben das, was ich die 'zweite Schuld' genannt habe, den 'Großen Frieden mit den Tätern', Geburtsfehler der Bundesrepublik." Mein Vater habe in dem Kreis nie über seine persönlichen Kriegserlebnisse gesprochen, ebensowenig wie die anderen Anwesenden. Für Giordano war mein Vater damit: "ein funktionierendes Rädchen im Dienste Hitlers und seines Anschlages auf Europa und die Menschenrechte.(...) Wäre ich Heinz Ressing später begnet, hätte ich ihm Fragen gestellt. Aber damals war ich noch dabei selbst Erfahrungen zu sammeln." 

Giordano ließen zeitlebens seine traumatischen Erfahrungen im 'Dritten Reich' und die allgemeine Verdrängung danach nie los. Obwohl ich seinen Standpunkt im Streit um den Moscheeneubau in Köln-Ehrenfeld nicht teile, habe ich seine Courage immer bewundert. Eine kritische und pointierte Stimme ist verstummt, sein skeptisch prüfender Blick wird uns fehlen. 
    


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Mittwoch, 3. Dezember 2014

Chios - Vor 70 Jahren endete die deutsche Besatzung




Am 10. September 1944 verließen die letzten deutschen Soldaten die griechische Insel Chios. Wenige Kilometer vor dem türkischen Küstenort Cesme gelegen, war die fünftgrößte Insel Griechenlands über drei Jahre lang von deutschen Truppen besetzt gewesen. Am 4. Mai 1941 waren gegen 18 Uhr Einheiten der 164.Infanterie-Division im Hafen der Inselhauptstadt gelandet. (a) Dort hatten das Vorkommando der Präfekt, der Bürgermeister und der griechische Militärbefehlshaber der Insel empfangen und offiziell die Insel an den deutschen Bataillonskommandeur Winkler übergeben. Für die Wehrmacht war die Insel ein Etappenort, hier wurden Verwundete des Afrikakorps versorgt. Sie war aber auch ein wichtiger Kreuzungspunkt für die im Meer verlegten Unterseekabel. Diese dienten einerseits der militärische Kommunikation zwischen den nordägäischen Inseln, verbanden aber andererseits auch das griechische Festland mit der nahegelegenen Türkei. 

Chios unterstand militärisch der auf der Nachbarinsel Lesbos tätigen Ortskommandantur 982, die ab Sommer 1943 zur Heeresgruppe E gehörte. Völlig kontrollieren konnte die Wehrmacht Chios nie, dazu fehlten ihr die militärischen Kräfte. Zu Beginn waren etwa 500 Soldaten auf Chios stationiert, während des Krieges halbierte sich die Anzahl. Kampfkräftige Einheiten wurden ab 1942 an die Russlandfront geschickt, während auf Chios auch sogenannte 'Volksdeutsche' - Polen die oft zwangsweise 'eingedeutscht' worden waren, die Garnison bildeten. In mehreren Orten der Insel gab es kleine Militärposten, in denen bis zu 10 Soldaten stationiert wurden.


Griechenland wird ausgepresst





Mit dem Einzug der Wehrmacht am 27. April 1941 in Athen und dem Hissen der Hakenkreuzfahne auf der Akropolis, begann für die Zivilbevölkerung eine Zeit großer Not und Verfolgung. Vor allem im Winter 1941/42 mussten viele Menschen wegen der katastrophalen Versorgungslage hungern. Deutsche, italienische und bulgarische Truppen besetzten das Land und plüderten es systematisch aus. Sie beschlagnahmten große Mengen Nahrungsmittel, Rohstoffe und Waren. Dabei duldete die Wehrmacht durchaus Plünderungen ihrer Soldaten. So bedienten sich nach der am 20. April 1941 erfolgten Kapitulation Griechenlands deutsche Soldaten ungestraft in Geschäften der besetzten Hauptstadt.
Deutsche Soldaten Plündern in Athen
Der Führung im Reich war Ende 1941 das Elend der griechischen Zivilbevölkerung bekannt. Zeitungen aus der neutralen Schweiz hatten darüber berichtet. Dazu meinte Hermann Göring lakonisch: "Wir können uns nicht übertrieben um die hungernden Griechen kümmern. Das ist ein Unglück, das noch viele andere Völker treffen wird." (1) Deutsche Zeitungen schürten gleichzeitig rassistische Ressentiment gegen Griechen. So schrieb eine Zeitung, die Bevölkerung in den Städten bestehe "gegenwärtig nur aus Händlern, Schleichändlern, Dieben und Arbeitssscheuen." Aus diesem Grund sei fraglich: "Wie lange es sich die Achsenmächte in ihrem schweren Kampf leisten können, eine Bevökerung von Nichtstuern  zu ernähren (...)". (2) 

Juden wurden systematisch verfolgt



Die Verfolgung der Juden in Griechenland begann bereits kurz nach der Kapitulation im April 1941. An der wirtschaftlich Ausplünderung ihrer jüdischen Mitbürger bereicherten sich auch viele ihrer Nachbarn. Der Bürgermeister Thessalonikis, Jannis Boutaris, gab im Oktober 2014 ein Zeichen als er sagte, die Stadt "schämt sich für die Kollaborateure, die mit den Besatzern zusammengearbeitet haben, für die Nachbarn, die sich fremden Besitz angeeignet haben, für alle, die jene verraten haben, die davonzukommen suchten." (3) Thessaloniki hatte vor dem Krieg fast 50 000 Einwohner mit jüdischen Wurzeln. Von Ihnen überlebten weniger als 1000 die Deportation in die deutschen Vernichtungslager. (4) 

Während der deutschen Besetzung von Chios lebte eine jüdische Familie italienischer Nationalität noch auf der Insel, berichtet Philip Argenti in seinem Buch (siehe Anmerkung a). Die jüdische Gemeinde hatte demnach die Insel bereits 1912 verlassen, nachdem die Insel vom Osmanischen Reich an Griechenland übergeben worden war. Nach zwei Jahren deutscher Besatzung sollen 1943 die griechischen Inselbehörden diese jüdische Familie vor der Deportation gewarnt haben. Sie überlebten und wanderten später nach Afrika aus. Zwar existieren heute keine Listen der von Chios Verschleppten mehr, die zentrale deutsche Namenskartei in Bad Arolsen teilte auf Anfrag mit, dass 40 Personen nach Deutschland deportiert wurden, die als Geburtsort Chios angegeben hatten. Die meisten kamen zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Bei zwei Personen konnte festgestellt werden, dass sie über das Konzentrationslager Chaidari bei Athen in ein deutsches KZ verschleppt wurden. (5)

Aktualisierung 12. Mai 2019:


1939: Ein Schiff mit jüdischen Auswanderern im Hafen von Chios 
Auf einer Facebook-Seite mit alten Fotos aus Chios fand sich im Mai 2019 folgendes Bild. Es zeigt demnach das Schiff "Utrato", das Juden aus Frankreich, Deutschland und den Niederlanden ins türkische Izmir bringen sollte und auf dem Weg im Hafen von Chios festmachte. Die Passagiere waren auf dem Weg in das von den Briten verwaltete Plästina. 

 Auf meine Nachfrage über das Schicksal der jüdischen Bewohner von Chios erhielt ich folgende Nachricht: 

"In the 1900 's there appear to have been about 250 Jewish people in Chios and a Jewish school with 40 students....There also were 8 shops, mainly selling glassware and fabrics, in the village of Aplotaria with Jewish owners.... In the corner of Aplotaria and Kalopleti streets there was a well known coffee shop belonging to a man called Abraham Ishahar (sp). .... 10 Jewish families used to live In the area of the Thymiana village, near by the football field and in 1935 there was a Jewish deputy Mayor of Chios!... In 1940 during the Italian invasion of Greece the Jewish community offered a large amount of money as a donation to the War Fund!... Most Jewish families lived in the areas of Fragomaha and Frourio where there was a Jewish Synagogue.... In 1914 during the first expulsion of Greeks from Turkey the Jewish community offered their school as a shelter to the refugees. ... In 1938-39 some of the Jewish families suspecting what was coming by the events from Germany fled for Turkey and then Palestine and some left for France (not yet occupied)!.. Only 60 people were left on Chios. Of these 60 only one family who managed to hide was able to survive the Germans. The rest were captured in November of 1941 and transported to the island of Lesvos and via Thessaloniki ended up in the Birkenau (sp) camp never to be seen again! In charge of this caprture and expulsion was an officer called Rosenburg (apparently renowned war criminal) who arrived in Chios in September of 1941 and who was, also, in charge of seisure of all Jewish properties.... One of the people who fled to France called Michel Dassen became a big name in the fashion world in the1960's. He kept returning to Chios to visit friends and relatives ( the family Desses) as Mr Fasoulakis remembers him in the years between 1965 -70..." https://www.facebook.com/groups/896961166993752/2345874942102360/?comment_id=2350015668354954&notif_id=1557652272572431&notif_t=group_comment_mention
Die Gedenkstätte Jad Vashem bietet auf ihrer Homepage eine Liste jüdischer Opfer des Holocausts, die von Chios stammten:  https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_lastName=&s_firstName=&s_place=Chios%20Greece&s_dateOfBirth=


Hungernde Zivilbevölkerung auf Chios


Auch den Menschen auf Chios brachte die deutsche Besatzung Not und Hunger. In seinen Erinnerungen an diese Zeit schreibt Demetrios Psaltakis: "Es gab kein Essen. Leute starben auf der Straße an Hunger." Im Seefahrtsmuseum auf Chios erzählte mir 2010 ein älterer Herr, der sich um das Museum kümmert: "Ich war damals ein kleines Kind und weiß noch, wie unsere Eltern mit den deutschen Soldaten Kleidung gegen Lebensmittel eintauschten. Der Hunger war so groß." Im August 1942 hieß es in einem Bericht des Internationalen Roten Kreuzes über die Zustände auf der Insel: "Auf Chios gab es praktisch kein Brot mehr, Kinder suchten am Ufer nach Fischresten" Geld war so gut wie nichts wert, eine Honorarliste der Inselärzte legte 1942 für Behandlungen eine Bezahlung in Nahrungsmitteln fest. (I) Das heutige Schifffahrts-Museum der Insel war einst Sitz einer reichen Reederfamilie. Die Villa  wurde während der Besatzung von der Wehrmacht beschlagnahmt und diente als Lazarett für Verwundete des Afrika-Korps


Schiffahrtsmuseum Chios

Zu Beginn der Besatzung bezahlten die Soldaten mit erbeuteten griechischen Drachmen. Diese verloren aber so sehr an Wert, dass die Soldaten auf Chios zum Tauschhandel übergingen. Gleichzeitig requierierte die Wehrmacht im Juli 1941 auf Chios rund 500 Tonnen Olivenöl, Lederwaren, Felle, Seife und Südfrüchte sowie über 100.000 Zigaretten - die per Schiff aufs Festland gebracht wurden. Dies belegen Einträge in das Kriegstagebuch der 164. Division. (b) Das Raubgut diente dem Unterhalt der Besatzungsoldaten, oder wurde weiter ins Reich transportiert. "Auf Chios bereicherten sich die Beamten der Deutschen Wirtschaftskommission und einige wenige lokale Händler durch ihr Monopol auf den Handel mit Öl, Zitrusfrüchten und Mastix" (II)
 
Die schwierige Versorgungslage auf den griechischen Inseln, die schon in Friedenszeiten auf
Deutsche Marinesoldaten landen 1941 auf Chios
Nahrungsmittellieferungen vom Festland angewiesen waren, verschärften dort operierende U-Boote und Jagdbomber der Briten. Sie machten Jagd auf die Versorgungsschiffe und verschärften damit auch die Versorgungslage auf Chios. Während der Besatzung operierten auf der Insel britisch-griechische Spezialeinheiten - die sich auf den örtlichen Widerstand stützen konnten. Ihre Aktivitäten wurden dadurch begünstigt, dass die deutsche Garnison der Insel zu schwach war, um sie überwachen zu können. Die Wehrmacht kontrollierte hauptsächlich die Inselhauptstadt mit dem wichtigen Hafen sowie die umliegenden Orte an der Westküste. Trotzdem gelang es dort Fischern, Flüchtlinge mit ihren Booten auf das nahegelegene türkische Festland überzusetzen. Dabei gelang es sogar einmal, ein deutsches Patrouillenboot samt Besatzung zu kapern. 


Die katastrophale Versorgungslage überall in Griechenland veranlasste das neutrale Schweden, zur Lieferung von Nahrungsmitteln und anderen Gütern. Anfang 1944 sollte das Schiff "Virili" auch Chios mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen.
Hafen von Chios heute


Gedenktafel
Am 7. Februar 1944 ging das Schiff im Hafen von Chios vor Anker und hier kam es  zur Katastrophe. Britische Flugzeuge griffen die "Virili" an, hielten sie es doch für einen deutschen Truppentransporter. Der Frachter brannte und 17 Besatzungsmitglieder kamen dabei ums Leben. Neben dem Busbahnhof am Hafen erinnert heute eine Gedenktafel an das tragische Ereignis. Dabei starben neben Griechen auch zwei
Schwedisches Schiff nach dem Angriff
Mitglieder des schwedischen Roten Kreuzes und einige Soldaten der Wehrmacht. Anfang 1944 hatten sich die deutschen Truppen bereits in das Hafengebiet mit der Kommandantur zurückgezogen. Das schwerbewachte Hauptquartier hatte man im Hotel KYMA eingerichtet, es existiert heute noch. Allerdings lag es nach 1945 in Trümmern und konnte erst 1963 wiedereröffnet werden. Den Abzug der deutschen Soldaten Anfang September 1944 störten die Alliierten nicht mehr.  
 

Das Denkmal - Der seltsame Gedenkstein des Jason Kalambokas 

Denkmal Jason Klambokas


Nur drei Tage vor dem Abzug der Deutschen, am 7. September 1944, wude in der Innenstadt der griechische Offizier Jason Kalambokas erschossen. Wenige hundert Meter vom Hafen entfernt - gegenüber der Nationalbank - befindet sich heute, inmitten einer kleinen Grünfläche, sein Denkmal. Unweit der heutigen Einkaufsstrasse Aplotarias geriet er in einen deutschen Hinterhalt. Kalambokas gehörte zu den griechischen Soldaten, die nach der Kapitulation im Mai 1941 auf Seiten der Alliierten weiterkämpften. Etwa 20.000 Soldaten der griechischen Armee konnten sich damals der Gefangenahme entziehen und wurden von britischen Schiffen nach Ägypten gebracht. Dort wurden viele für Sabotageaktionen im besetzten Griechenland geschult. Kalambokas, der nicht von Chios kam, führte auf der Insel mehrere Aktionen gemeinsam mit britischen Kommandos und dem örtlichen Widerstand durch. Da die Besatzer nicht genügend Kräfte zur Kontrolle der Insel hatten, überließ man die Verwaltung den griechischen Behörden - ein Praxis die überall angewandt wurde. Außerdem warb man unter den Griechen Kollaborateure für die Miliz an. Die Angst vieler Chioten vor Repressionen war groß. So saßen zwei Fischer der benachbarten Insel Ikaria auf Chios sechs Monate im Gefängnis. Ihr Fischerboot war in einem Sturm an ihre Küste getrieben und Dorfbewohner von Pyrgie hatten sie dann der örtlichen Polizeit gemeldet. Deutsche Soldaten erpressten Lösegelder: "Unteroffizier Herbert Petzchinski verhaftete einen Chioten, um ihn gegen ein größere Mewnge Olivenöl wieder freizulassen". (III)



Viele dieser Milizionäre wechselten nach Abzug der Deutschen die Seite und kämpften im griechischen Bürgerkrieg (1946-1949) auf Seiten der Regierung gegen die Kommunisten. Keiner wurde wegen seiner Taten für die deutschen Besatzer jemals zur Rechenschaft gezogen. Auch auf Chios kam es während des Bürgerkriegs zu Gefechten mit kommunistischen Partisanen, so bei Volissos und im Kambos nahe der Hauptstadt. Einige der gefangenen Kämpfer wurden danach in Athen zum Tode verurteilt. (6)




Direkt neben der Statue Kalambokas befindet sich, unter Plexiglas, eine Marmorplatte. Auf der Vorderseite stehen auf Griechisch der Name und das Todesdatum Kalambokas. Auf der Rückseite entdeckt man, dass er zuvor als Grabstein eines Wehrmachtssoldaten gedient hatte. So kann man noch deutlich ein großes Eisernes Kreuz erkennen - aus dem nach Protesten, erst vor einigen Jahren das Hakenkreuz herausgemeißelt wurde. Darunter steht der Name: Dr. Hermann Westhauser. Der Unteroffzier der Wehrmacht kam beim britischen Luftangriff auf die "Virili" ums Leben. Unter dem eingemeißelten Namen steht auf dem Grabstein immer noch deutlich lesbar: "Für den Führer und Großdeutschland". Nach dem Krieg wurden seine sterblichen Überreste - wie die aller in Griechenland gefallenen Wehrmachtssoldaten - auf den zentralen deutschen Soldatenfriedhof Dyonnisos-Rapentosa, 30 Kilometer nordöstlich von Athen verbracht.  



Der Unteroffizier Dr. Hermann Westhauser gehörte zur Geheimen Feldpolizei. (7) Er
Greuel in Griechenland
wurde am 4. März 1912 in Wien geboren, kam zu Kriegsbeginn zur Wehrmacht und gehörte ab Ende November 1943 zur Gruppe 621 und dann später zum Abwehrtrupp 383 der Geheimen Feldpolizei.
Bis Februar 1944 hatte diese dem militärischen Nachrichtendienst "Abwehr" unter Wilhelm Canaris unterstanden. Danach wurde sie direkt dem SS-Reichssicherheits Hauptamt unterstellt. "Die GFP ist eine bis heute eher undurchsichtige Organisation, die mit der Wehrmacht lose verbunden war und oft SS-Leute als Agenten beschäftigte." (IV) Die Aufgabe der Geheimen Feldpolizei bestand im Schutz der Truppe vor "Zersetzung", dem Kampf gegen Partisanen und Saboteure sowie der Spionage und Überwachung der Zivilbevölkerung. Dabei durften ihre Mitglieder im Dienst Zivilkleidung tragen. Auf das 'Konto' dieser Einheiten und der für sie arbeitenden griechischen Kollaborateure gingen Folter sowie die Liquidierung tausender Zivilisten. (8) Ein großer Teil der Mannschaften bestand aus Mitgliedern der deutschen Sicherheits- und Kriminalpolizei.

Auch auf Chios wurden bei Verhören Gefangene gefoltert, Dr. Hermann Westhauser Einheit sei wegen ihres brutalen Vorgehens auf der Insel gefürchtet gewesen (d). Ihr Auftrag umfasste dabei auch Gegenspionage und das Sammeln von Informationen über das türkische Festland. Argentis nennt Westhausers Einheit deshalb die "wahre Gestapo auf Chios". (e) Das könnte den Umstand erklären, warum die Wehrmacht auf seinem Grabstein nicht nur seinen Dienstgrad, sondern auch den Doktortitel einfügen lies. Auf Nachfrage erklärte mir eine deutsche Dienststelle, dass dies damals äußerst unüblich gewesen sei. (9) 



Während der deutschen Besatzung wurden auf Chios von den Deutschen insgesamt 19 Männer hingerichtet. Davon wurden zuvor 14 von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt, die anderen kamen bei Vorfällen ums Leben. So wurden zwei Männer während einer Razzia am Stadtpark erschossen, als sie fliehen wollten. (c) 


Der Tod des Jason Kalambokas




"Eigentlich bin ich daran Schuld, dass Kalambokas erschossen wurde", erzählte lächelnd im Sommer 2014 Georgios Zachariadis. Er wurde 1942 auf Chios geboren und ging Mitte der 1960er Jahre nach Österreich. Im Winter leben er und seine Frau Maria in Graz. Jeden Sommer kommen sie auf die Insel und vermieten bei Karfas Appartments an Touristen. Georgios Zachariadis war zwei Jahre alt, als Kalambokas erschosossen wurde. "Später wurde mir erzählt, Jason habe kurz vor dem Abzug der Deutschen einen Bombenanschlag auf die Besatzer versuchen wollen. Er versteckte dazu den Sprengstoff in einem Korb voller Eier. Meine Mutter wollte seine Aktion verhindern und ihn - der in unserem Haus übernachtete - einfach weiterschlafen lassen. Aber ich habe dann am frühen Morgen angefangen laut zu Weinen und so wurde er doch wach. Die Deutschen hatten von seinem Vorhaben durch Verrat erfahren und stellten Kalambokas am Morgen eine Falle. " Sie lauerten ihm am Ende der heutigen Einkaufsstrasse - Aplotarias - auf: "Er wurde dort von vier deutschen Offizieren auf offener Straße - vielleicht 50 Meter von unserem Haus entfernt - gestellt und erschossen."

Im Buch Philip Argentis heißt es, die Umstände des Todes Kalambokas am 7. September 1944 seien unklar. So werde behaupt, er sei in eine Falle der Deutschen gelaufen. Er habe sich mit einem deutschen Soldaten treffen wollen, der beabsichtigte zu desertieren. Dann sei dieser Mann aber in Begleitung von zwei anderen Soldaten erschienen, wohl um Kalambokas Festzunehmen. Kalambokas habe seinen Revolver ziehen wollen und sei erschossen woredn. Zuerst hätten die Deutschen nicht gewusst, welche wichtige Rolle Kalambokas im Widerstand der Insel spielte. Dies sei erst nach dem Fund von Schriftstücken in seiner Kleidung klar geworden. (f)   



Georgios Vater war einst auch Offizier gewesen und arbeitete während der Besatzung beim Zoll im Hafen von Chios. Er hatte Verbindungen zum Widerstand und die Eltern entschlossen sich zu fliehen: "Erst nachdem wir gerettet waren, zeigte meine Mutter meinem Vater, dass sie unter ihrem Rock eine Pistole hatte. Er bekam einen ziemlichen Schreck, denn ihm war klar, dass meine Mutter zweifellos geschossen hätte," Viel später fand Georgios eine alte britische Munitionskiste seiners Vaters - voller Dokumente aus dieser Zeit . Dort tauchten auch die Namen griechischer Kollaborateure auf Chios auf. Georgios meint aber: "Heute macht die Veröffentlichung keinen Sinn mehr, die Verantwortlichen sind lange tot und die Nachkommen können nichts dafür.".


Und die Sache mit dem Grabstein? "Na ja, nach dem Krieg wollte man Kalambokas ein Denkmal setzen. Aber die Insel war nach dem Krieg arm und hatte für ein Denkmal kein Geld. So kam man auf die Idee, den deutschen Grabstein aus Marmor quasi 'umzuwidmen' ". Die Statue kam erst viel später hinzu. Zacharidis bemühte sich lange darum, dass das Hakenkreuz entfernt wird. Er ärgert sich auch darüber, dass es hier keine Information für Besucher der Insel über Kalambokas und den 'janusköpfigen' Grabstein gibt. 

Siehe auch die neue Info-Page über die deutsche Besatzung und Interviews mit Zeitzeugen
http://www.occupation-memories.org/de


(a) Philip P. Argenti, The occupation of Chios by the Germans and their administration of the island, Cambridge University Press 1966
(b). a.a. O. 
(c). a.a.O. Seite 26 und 31
(d) a.a. O. Seite 28
(e) a.a.O. S. 31
(f) a.a. O S. 74

(1) Götz Aly, Hitlers Volksstaat, Fischer-Verlag 2005, S. 278
(2) siehe Wikipedia: Große Hungersnot in Griechenland
(3) Griechenland-Zeitung, 14. Oktober 2014
(4) www.medienfresser.blogspot.de/2011/11/judisches-thessaloniki-die-mutter.html

(5) Mitteilung der Deutschen Dienststelle am 30. März 2011
(6) http://en.wikipedia.org/wiki/Chios#Modern_period 
(7) Schreiben des Militärischen Forschungsamtes in Potsdam
(8) https://de.wikipedia.org/wiki/Geheime_Feldpolizei_%28Zweiter_Weltkrieg%29


Obwohl diese Spezialeinheiten vermeintliche Partisanen liquidierten  - darunter auch Kinder und Jugendliche und an der Ostfront "Vergasungswagen" betrieb, wurde sie im Nürnberger Prozess nicht als verbrecherische Organisation eingestuft.



(9) Schreiben des Internationalen Suchdienstes (ITS) Bad Arolsen vom 10. November 2010

(I) Mark Mazower: "Griechenland unter Hitler", S. Fischer Verlag 2016 S. 81 und S. 94
(II) a.a.O. S.85 
(III) a.a.O. S. 207 und 260
(IV) a.a.O S. 269