Sonntag, 31. Mai 2015

Chios: Einstige Lepra-Kolonie muss als Denkmal erhalten bleiben



Heute noch versetzt das Wort Lepra viele Menschen in Angst und Schrecken. (1) In der  Mittelmeerregion grassierte diese Krankheit bereits im Altertum, bereits 1500 vor Christus erwähnen sie alte Schriften. Im Gegensatz zur Pest und anderen Krankheiten, an denen die Opfer relativ schnell starben, bedeutete Lepra jahrelanges Siechtum und entstellte die Kranken. Diese 'Aussätzigen' wurden gesellschaftlich isoliert und oft in einsame Gegegenden oder auf Inseln deportiert. (2) Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Ursache der Krankheit unbekannt, erst dann entdeckte man die Lepra-Bakterien. Wirksame Heilmittel konnten Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt werden. Auch heute ist das Kapitel Lepra nicht abgeschlossen, in Asien und Afrika grassiert die Krankheit immer noch. Hauptursachen für die Verbreitung der Lepra sind immer noch Armut, Hunger, schlechte hygienische Verhältnissen und beengte Wohnbedingungen.

Lepra bedeutete für die Betroffenen zumeist gnadenlose Ausgrenzung aus ihrer dörflichen- oder städtischen Gemeinschaft. Das galt für Nordeuropa genauso, wie für das Mittelmeer und die Ägäis. Bekannt ist die Lepra-Kolonie auf der Halbinsel Spinalonga (Kalygon) bei Kreta. (3)  Oft wurden in solchen Lagern nicht nur Leprakranke eingesperrt, sondern auch Menschen mit Haut- oder Stoffwechselkrankheiten. Da Lepra früher unheilbar war und für eine 'Strafe Gottes'  gehalten wurde, machten Katholiken und Orthodoxe den Heiligen Lazarus zum Schutzpatron der Aussätzigen.


Die Lepra-Kolonie auf Chios

Heute ein idyllischer Ort
Auf Chios, der fünftgrößten Insel Griechenlands, wenige Kilometer vor der türkischen Küste bei Cesme gelegen, steht heute noch eine alte Lepra-Kolonie. Eingerichtet wurde dieses Leprosorium bereits im Mittelalter um 1378. Sie war somit die erste Einrichtung für Leprakranke in der gesamten Ägäis. Noch während des 2. Weltkrieges lebten hier etwa 30 Menschen, die vom schwedischen Roten Kreuz mit Nahrungsmitteln versorgt wurden. * Erst im Jahr 1958 wurde das Lager geschlossen. Früher lebten die Kranken, versteckt in einem kleinen Tal unweit der Inselhauptstadt, in dörflicher Gemeinschaft. Seit der Schließung verfällt dieses kulturhistorisch wichtige Denkmal der Inselgeschichte.

Lagereingang
Man braucht schon die Hilfe eines Einheimischen, um das kleine Tal zu finden. Es liegt direkt neben der Umgehungsstraße der  Inselhauptstadt - Hinweisschilder sucht man  vergebens. Am Straßenrand sieht man eine der orthodoxen Mini-Kapellen vor einer Schranke. Dahinter führt eine von Platanen bestandenen Allee zum etwa 200 Meter entfernten Lagereingang. Über dem schmiedeeisernen Gittertor steht auf Griechisch 'Asylum Lepron'. Vor einigen Monaten versuchten es Schrottdiebe aus seiner Verankerung zu reißen - glücklicherweise waren sie erfolglos.

Hinter dem Tor rechts verlaufen am Hang die alten Häuser des Lagers. Sie wurden Anfang des 20. Jahrhunderts durch großzügige Spenden ausgewanderter Chioten aus London und Paris neu erbaut. Die früheren Gebäude aus dem Mittelalter wurden bei dem großen osmanischen Massaker 1822 auf der Insel und durch das schwere Erdbeben 1881 völlig zerstört. Nur der alte gepflasterte Weg und die Reste der steinernen Wasserleitungen, sowie die Ruine einer orthodoxen Kirche am Ende des Camps stammen noch aus dem Mittelalter.

Im Frühling blüht es hier überall, die gut erhaltenen Häuser im neoklassischen Stil mit ihren rot-gelben Streifen wirken repräsentativ und einladend. Wenn man daran denkt, wozu die Anlage einst gedient hat, kommen aber schnell Beklemmungen auf. Irgendwo klappert im Wind, der durch das Tal weht, ein alter Fensterladen. Auch bei Sonnenschein bleibt dies ein etwas unheimlicher Ort... 


Früher lebten die Männer und Frauen 
getrennt in den kleinen
Enistige Wohngebäude der Kranken
Häusern. Sie hatten jeweils eigene sanitäre Anlagen und so findet man noch alte Badehäuser mit Wannen aus Marmor sowie die Öfen für das heiße Wasser. Auch uralte elektrische Schalttafeln hängen noch an den Wänden. Zwischen den Wohngebäuden für die Männer und Frauen steht noch das frühere Verwaltungsgebäude mitsamt der alten Lagerküche und dem Gemeinschaftsraum. Daneben befindet sich das einzige renovierte Gebäude der Anlage, die orthodoxe Kapelle mitsamt dem Kirchturm. Hier erinnert eine Gedenktafel an die ausgewanderten Chioten aus Paris und London, die Anfang des 20. Jahrhunderts den Wiederaufbau durch ihre Spenden ermöglichten. 


Die alte Apotheke
Das ganze Gelände der Kolonie wirkte, als sei es fluchtartig verlassen worden. In einigen Räumen stapelten sich alte Bettgestelle, die seit Jahrzehnten vor sich hinrosten. Auf manchem lagen noch alte Matrazen, Decken und alte Kleidungsstücke. Am erstaunlichsten und zugleich unheimlichsten war der Besuch der einstige Lager-Apotheke. In den Schränken stehen heute noch alte Töpfe und Tiegel mit Medikamenten und Salben sowie Verbandsmaterial. Sogar der typische Medizin-Geruch hing noch in der Luft. Alles wirkt, als hätten die Ärzte und Pfleger das Gelände nicht bereits vor mehr als 50 Jahren verlassen. Unwillkürlich fürchteten wir uns davor, hier etwas zu berühren - die Angst vor der unheimlichen Krankheit sitzt tief... 

Die Kolonie wurde durch einen Bach mit Wasser versorgt, das ermöglichte auch den Anbau von Gemüse und Obst für das Camp. Jeder Kranke betreute hier seinen eigenen kleinen Garten. Damit versorgte sich das Lager nicht nur selbst, Gemüse, Früchte und selbstgemachter Schafskäse wurden auf der Insel verkauft - ob die Käufer damals wussten, woher das stammte? 

Folgt man dem alten Weg entlang der verfallenen Wasserleitung und den Gärten zum Ende des Tales, stößt man auf die Ruine einer orthodoxen
Orthodoxe Ruine
Kirche. Während der Massaker der Osmanen blieben auch die Leprakranken nicht verschont. Sie wurden getötet und die alte Kirche geplündert. Heute stehen nur noch die Mauern, an einigen Stellen erkennt man die Reste orthodoxer Heiligenbilder an den Wänden. Die Mitte des einstigen Kirchenraums beherrscht jetzt eine alte Kiefer – daneben befindet sich eine Mauer mitsamt einer kleinen Gedenkkapelle.

Hierher trafen wir Georgios Paparios. Er wohnt in der Nachbarschaft und kommt täglich hierher, um nach dem Rechten zu sehen. Er kennt alle Geschichten über das  Dorf der Leprakranken. Ihn ärgert vor allem der Vandalismus einiger ungebetener Besucher. Regelmäßig würden hier Parties der Drogenszene gefeiert, beschwert sich Georgios. Dies  belegen die vielen Graffitis und Schmierereien an den Wänden der alten Häuser. Diebe haben darüber hinaus längst die alten Wasserhähne aus Messing in allen Häusern herausgebrochen. Offiziell kümmert sich niemand um das Gelände, das der orthodoxen Kirche gehört. Nur die Kapelle strahlt in frischem Glanz....

Er kümmert sich um das Gelände - allein!
Dabei hat die Kirche lange vom Betrieb solcher Lepra-Station profitiert. Von der heimtückischen Krankheit waren nicht nur Arme betroffen. Beengte Wohnverhältnisse und mangelnde Hygiene  in mittelalterlichen Siedlungen machte auch Wohlhabende zu Opfern. Von den einst beengten Lebensverhältnissen kann man heute noch auf Chios bei einem Besuch der mittelalterlichen Dörfer Mesta und Olymbi einen Eindruck bekommen. Mancher Insasse einer solchen Lepra-Kolonie stammte aus einer reichen Familie. Nach seinem Tod fiel das Vermögen oft an die Kirche. Wohl auch aus diesem Grund engagierte sich neben der orthodoxen auch die kleine katholische Gemeinde auf Chios um das Camp. Von ihrer Kirche zeugen heute nur noch ein paar Mauerreste am Hang und ein kleiner katholischer Friedhof in der Nähe. 

 Anscheinden interessiert sich auf Chios heute
niemand mehr für
Graffities verschandeln das Dorf
 den Erhalt dieses einmaligen Kulturdenkmals der Insel. Während heute auf Kreta Spinalonga zum Touristenziel geworden ist, verschweigt man auf Chios lieber seine Existenz. So meinte ein Freund zu uns: "Das ist doch keine schöne Sehenswürdigkeit für Touristen!" Damit erklärt sich wohl, warum in keiner Touristeninformation ein Hinweis auf das einstige Lepra-Dorf zu finden ist.


Mittlerweile droht der über Jahrhunderte existierdenden Siedlung der endgültige Verfall. Sie wird ein Opfer der Verantwortungslosigkeit von Kirche und Staat und des Vandalismus gedankenloser Zeitgenossen... 

Ein beeindruckender Film über die Kolonie von Yiannis Zafeiris findet sich auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=_BeTyoLcyps


Text und Fotos dürfen nur mit Zustimmung des Autors genutzt werden
* Bericht des SRK zur Versorgungslage auf Chios, September 1943, in: "The occupation of Chios by the Germans...." Philip P.Argenti Cambridge 1966, Seite 174

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Lepra
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Leprakolonie
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Spinalonga