September 2020 - Region Amani im Nordosten der Insel |
Eigentlich ist der Herbst auf Chios meist sonnig und warm - wie auch in diesem September. Getrübt wurde diese 'Großwetterlage' jetzt durch den dissonanten Dreiklang: Türkei - Corona - Flüchtlinge. Dabei ist das angespannte Verhältnis zu dem nur acht Kilometer von der Insel entfernten Nachbarn derzeit für die Inselbewohner die größte Sorge - politisch und wirtschaftlich. "Der Fährverkehr nach Cesme ist, bis auf den Transport von Gütern, eingestellt worden", sagte unser Freund George Missetzis, der auf Chios alte Bauernhäuser an Touristen vermietet. Hauptgrund ist dabei die unklare Corona-Situation in der Türkei, denn genaue Zahlen über positiv Getestete veröffentlichte Ankara bisher nicht. Noch im vergangenen Jahr sah man überall im Hafen von Chios Gruppen türkischer Touristen, die zum Einkaufen oder für ein Wochenende die Insel besuchten. An einigen Läden hingen Schilder mit türkischsprachigen Speisekarten - davon war diesmal nichts zu sehen. "Das liegt auch daran, dass die türkische Währung - Lira - so heftig an Wert verloren hat, dass sich ein Besuch in Euro-Griechenland nicht mehr lohnt", betont George.
den Halbmond Ankaras im Nacken... |
Belastete Vergangenheit
Nachdem das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg untergegangen war, musste die Türkei viele Inseln vor seinem Festland abtreten. Sie kamen zu Griechenland, oder unter die Verwaltung Italiens und Großbritanniens. Dabei ist wichtig, dass die Bevölkerung dieser Inseln seit Jahrhunderten überwiegend Griechen gebildet hatten. Völlig Absurd ist der Verweis auf den Ersten Weltkrieg bei Chios, denn die Insel war bereits 1912 nach dem Balkankrieg Teil Griechenlands geworden. Auf Chios lebten damals nur einige tausend muslimische Einwohner - vor allem in der Zitadelle der Hautpstadt - sie mussten 1923 die Insel verlassen.
Bis heute sind die Massaker auf Chios, die 1822 osmanische Truppen und Plünderer vom Festland verübten, bei den Griechen unvergessen. Im Jahr 1821 hatten sich Griechen auf dem Peloponnes gegen die osmanische Herrschaft erhoben. Auch auf Chios landete ein Trupp Freischärler, der aber die Insel wieder verließ, als der Sultan in Konstantinopel (Istanbul erst ab 1930) Truppen schickten. Die über Monate dauernden Plünderung der Insel kostete zehntausende Bewohner das Leben, viele wurden in die Sklaverie durch die Osmanen verkauft und manchen gelang die Flucht auf andere Inseln. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden 1923 die meisten Griechen vom türkischen Festland vertrieben, als der Versuch der Regierung in Athen gescheitert war, große Gebiete Kleinasiens zu erobern. Dabei war es dort auch zu Massakern griechischer Truppen an der muslimischen Bevölkerung gekommen. Aus Rache wurden von den Truppen Kemal Atatürks die griechische Bevölkerung Smyrnas - heute Izmir - vertrieben. Viele Flüchtlinge kamen zuerst in Chios an, manche Familien blieben und wurden dabei nicht immer freundlich von den Alteingesessenen aufgenommen. Eine Freundin: "Ihr glaubt es nicht. Viele Chioten bezeichnen deren Nachkommen heute noch abschätzig als 'türkischen Samen'."
Während des Zweiten Weltkrieges, in dem die Türkei kurz bis vor Kriegsende neutral geblieben war, konnten viele verfolgte Griechen dorthin Zuflucht finden. Sie wurden versorgt und viele Männer konnten sich in Ägypten den britischen Truppen anschließen. Trotzdem blieb das Verhältnis zwischen Griechen und Türken auch nach 1945 angespannt - bei gemeinsamer NATO Mitgliedschaft. In den 1950er Jahren gab es in der Türkei Pogrome gegen Griechen und nach der Eskalation in Zypern (1974) stand man kurz vor einem Krieg. Daher finden sich an den Küsten von Chios nicht nur alte Wachtürme, die einst vor Piraten warnen sollten. An vielen Buchten und auf Anhöhen stehen, mittlerweile verfallene und von Gestrüpp überwachsene Bunkeranlagen. Sie sollten Chios gegen eine türkische Invasion schützen. Einst kaufte ein Freund von uns bei Karfas an einem Hang ein Stück Land, um es zu bebauen - er stieß zuerst auf einen eingestürzten Bunker. Regelmäßig gibt es jedes Jahr auf Chios Manöver der griechischen Armee und Marine. Oft donnern tieffliegender Kampfjets über die Insel, dabei liefern sich türkische- und griechische Flugzeuge Scheingefechte (dogfights).
...und die Flüchtlinge?
Auf Facebook fand ich bei der Rückkehr von Chios die Frage besorgter Touristen, ob man denn angesichts der Flüchtlinge auf Chios die Insel ungefährdet besuchen könne. Schon grotesk, denn Chios ist immer noch ein sehr sicherer Ort, mehr jedenfalls als so mancher Stadtteil einer europäischen oder deutschen Großstadt. Gefährlich ist das Leben auf Chios, wenn schon, dann eher für Flüchtlinge. Die Aggression in den Lagern und von Chioten ist, wegend er unhaltbaren Zustände im Lager Vial gewachsen. Zustände wie auf Lesbos, die letztlich die Regierung in Athen mit Billigung der EU - zur Abschreckung weiterer Flüchtlinge - dulden, ist Chios bisher erspart geblieben.
Das erste Flüchtlingslager auf Chios war 2015 an der Ostküste bei Vrondados errichtet worden. Es war schon damals überbelegt und viele Menschen lebten in Zelten neben Containern hinter Stacheldraht. Manche mussten bei einem alten Friedhof in Zelten der UN leben. Schon damals schämten wir uns bei diesem Anblick für Europa. Als dann später immer mehr Flüchtlinge die Insel erreichten, wurden sie in den alten Festungsgraben der Zitadelle der Hauptstadt gepfercht. Die Zustände waren katastrophal, die Spannungen mit den Chioten nahmen zu, manche bewarfen die Zelte - in denen Männer, Frauen und Kinder leben mussten - mit Steinen und Brandsätzen. Es halfen aber auch viele Inselbewohner mit Lebensmitteln und Spenden. Heute leben die Flüchtlinge, abgeschottet und vom Militär bewacht, im Süden der Insel in einem alten Militärlager Vial. Bei vielen Chioten liegen jetzt die Nerven blank, denn nichts ändert sich und Athen lässt die Inselbevölkerung im Stich.
Zu heftigen Auseinandersetzung zwischen Inselbewohnern und Bereitschaftspolizei aus Athen kam es daher vor einigen Wochen. Die Regierung in Athen plant, auf dem kargen Plateau des Epos-Gebirges, nördlich der Inselhauptstadt, ein weiteres Lager. Die Polizeieinheiten mit Wasserwerfen sollten den Widerstand der Einwohner dagegen brechen. Die Staatsmacht führte sich wie ein Besatzungsregime auf und das hatte Folgen. Ein Freund erzählt: "Ich bin friedliebend und Staatstreu, aber das war zuviel. Das Hotel, in dem die Sonderpolizei in Karfas untergebracht war, wurde gestürmt und ihr gesamtes Gepäck auf die Straße geworfen." Die Polizisten revangierten sich bei der Abfahrt am Hafen bei Mesta mit Prügelattacken, wie in Handy-Videos bei facebook zu sehen. Pikantes Detail: Bei den Parlamentswahlen hatte die Regierungspartei Neo Dhemokratia einen der beiden Sitze der Insel gewonnen (Syriza den anderen). Der jetzt zuständige Minister für Flüchtlinge in Athen kommt von Chios. Nach den Auseinandersetzungen musste sein Büro auf der Insel geschlossen werden.
Pelineo - höchster Berg der Insel |
Corona - keine Panik aber Aufmerksamkeit
Und Corona?! Auf der Insel spürt man davon wenig, die Kontrollen auf dem Flughafen nach der Ankunft beschränkten sich darauf, meine Papier mit der Einreiseerlaubnis anzuschauen. Es gab einige Infektionsfälle, die bisher vor allem Griechen betreffen, die vom Festland aus Athen oder Thessaloniki gekommen sind.
Aktualisierung 20. Oktober 2020 um 21 Uhr: Die Tageszeitung "Die Welt" meldet, die veröffentlichten Zahlen Infizierter in Griechenland entspreche nicht der Realität. So seien in der ersten Phase der Corona-Epidemie im Frühjahr landesweit täglich nur etwa 800 Menschen getestet worden - vorwiegend Beschäftigte in Pflegeberufen und Bewohner sozialer Einrichtungen. Das erklärt die hohe Zahl an Todesfällen. Mittlerweile liegt die Testrate in Griechenland bei 26 000 Personen pro Tag. Auf Chios musste jetzt das Flüchtlingslager Vial geschlossen werden, da etwa 30 Personen mit dem Corona Virus infiziert sind, meldet die Zeitung weiter. Die Menschen dürfen das Lager nicht mehr verlassen, es wurde von der Außenwelt abgeriegelt.
In der Inselhauptstadt tragen die Menschen Masken, vor allem beim Einkaufen. Die Bars und Lokale am Hafen wirkten leerer als sonst, die Jugend ist aber auch hier - wie wohl überall in Europa - etwas sorglos. In den Dörfern hält man gelassen Abstand, ich wurde beim Einkaufen mit meiner Maske etwas belächelt - aber die Verkäuferin im Minimarket trug selber eine. Mit Unverständnis reagierte man aber auf unsere Berichte von tausenden Demonstranten, die Corona in Deutschland leugnen. "Das machen bei uns nur ein paar Spinner oder ultraorthodoxe Christen und Popen, die nicht aufhören wollen, ihre Ikonen in der Kirche zu küssen", lästert ein Freund in Volissos. Für das Touristenzentrum im Süden bei Karfas ist die Situation natürlich schwer. Viele Hotels haben diese Saison gar nicht erst geöffnet und George Missetzis, der im Dorf Avghonima restaurierte Häuser an Touristen vermietet meinte: "Wir haben. verglichen mit 2019 jetzt nur 17% des Umsatzes gemacht - und dabei war schon das letzte Jahr eine Katastrophe."
Trotzdem: Man lässt sich nicht beirren, hofft auf bessere Zeiten und tüftelt an Ideen, wie sich Geld verdienen lässt. Viele haben den Sommer erstmals in Ruhe verbringen können - mangels Tourismus. George meinte: "So häufig wie in diesem Jahr, bin ich noch nie am Meer schwimmen gewesen" und wirklich, er sah so entspannt und erholt aus.
Unsere Freunde verlieren jedenfalls nicht den Mut. Überall Natur, die an vielen Stellen immer noch unberührt ist und zum Wandern einlädt. Saubere Strände mit warmem Meer, in dem um uns beim baden kleine Fische neugierig herumschwimmen. Eine lebhafte Hauptstadt, von der man aus in ein paar Schritten die Ruhe der Altstadt in der Zitadelle - oder im nahegelegenen Stadtpark genießen kann. Ein Wetter - Sonne bis 30° - man konnte, bei kühlem Wind, angenehm Wandern. Einzige ernsthafte Gefahr: Die im Westen wegelagernden Kühe, vor ihren 'Straßensperren' musste man sich in Acht nehmen - in der Nacht dann vor Ziegenherden. Die Jagdsaison war zuende - auf den Straßen im Nordosten begegneten wir in der Dunkelheit herumhoppelnden Hasen - sie feierten wohl. Schön der Blick von der Terrasse des Mastix-Museums im Süden über die Mastiha. Die Fahrt beim Sonnenuntergang an der Westküste in den Inselnorden - wie im Märchen.
Und am Abend genießen wir, gemeinsam mit Freuden und vielen Katzen, die Ruhe und den Sonnenuntergang bei Volissos.
Wir freuen uns jetzt schon auf Chios 2021!
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