Die Krise in Griechenland ist bei uns aus der öffentlichen
Diskussion verschwunden, nur über die katastrophale Situation der Flüchtlinge
wird ab und zu noch berichtet. Ach ja, und natürlich, wenn es um ‚unser Geld’
und dessen ‚Verschwendung durch die Griechen’ geht. Kritische Stimmen aus
Griechenland, sucht man in unserer Berichterstattung zumeist vergebens. Lieber
gerieren sich unsere Journalisten als Zuchtmeister und Propagandisten der
Politik der Bundesregierung. Einen Lichtblick in dieser Situation bot am 7. Juni in Stuttgart der in
Thessaloniki an der Universität lehrende Professor Athanasios Marvakis.
Bekannt wurde er, als er in der Talksendung
des ZDF mit Maybrit Illner dem CDU-Fraktionschef Kauder die Leviten las –
„Danach hat mich auch keiner mehr auf ein deutsches Podium eingeladen“,
sagt Marvakis. Auf der Veranstaltung der Rosa Luxemburg Stiftung in Stuttgart
konnte er seine Sicht der Dinge darlegen. Der Professor engagiert sich seit längerem
in Nordgriechenland für Flüchtlinge und ist ein Kenner der linken- und
alternativen Szene seines Landes.
Athanasios Marvakis |
Was hat sich seit dem „OXI“ (Nein) der Griechen zur
Troika-Politik vor einem Jahr verändert? „Nicht viel“, meint Marvakis. Seit
dem die Regierung Tsipras danach „überredet“ worden sei, das
Memorandum der Gläubiger zu unterschreiben, kontrollierten sie faktisch seine
Politik. Gleichzeitig verkaufe er den fortschreitenden sozialen Kahlschlag im
Land der griechischen Öffentlichkeit immer noch als Reform. Bisher
sei es der
Regierung nicht gelungen, den Staatsapparat ernsthaft zu kontrollieren. In
Athen folge man dem Spardiktat mit der altbekannten ‚Rasenmäherpolitik’.
Überall würden die Mittel gekürzt – die Strukturen aber unverändert gelassen.
Marvakis Fazit: „Wer vor der Krise schlecht vom Staat behandelt wurde, bekommt das
jetzt noch stärker zu spüren.“
Nach der 'Reform'.... |
Bei aller Kritik an Tsipras sei aber zu bedenken, dass es
sich um keine linke Regierung in Athen handele, betonte Marvakis. Schließlich
musste Syriza mit der rechtsnationalen ANEL-Partei koalieren. Alle anderen
Parteien seien für die Troika-Politik gewesen, die ANEL habe sich von der
konservativen Nea Demokratia abgespalten, weil die Nationalisten diese Politik
nicht unterstützen wollte. Warum Tsipras und Syriza allerdings nach dem
Einschwenken auf die Politik der EU-Gläubiger nicht den Partner wechselt – die
Frage wurde auf der Veranstaltung nicht diskutiert.
Faktisch wird die griechische Gesellschaft durch die breit
entwickelte Selbsthilfe zusammengehalten, meint Marvakis. So wäre
beispielsweise das Gesundheitssystem längst zusammengebrochen, würden nicht die
landesweit etwa 50 Kliniken und Gesundheitszentren, getragen von Initiativen
und Privatleuten, die Menschen ohne Versicherung notdürftig versorgen. Dabei gehörten nicht nur die Armen
zu ihren Kunden, denn immer mehr Menschen aus dem Mittelstand - auch
Kleinunternehmer - könnten sich die
hohen Sozial- und Gesundheitsabgaben nicht mehr leisten. Besonders wütend
reagiert Marvakis auf die Frage, wie sich denn die griechisch-orthodoxe Kirche
verhalte: „Die Institution Kirche tut nichts für die Armen, dabei ist sie in
Griechenland unerhört reich.“ Daran ändere auch nichts, dass einzelne
Gemeinden, Priester oder sogar Bischöfe engagieren würden.
Auch kein gutes Haar ließ der Professor in Stuttgart an
Ministerpräsident Alexis Tsipras und seiner Syriza-Partei. Erst durch die
sozialen Bewegungen groß geworden, sei ihr jetzt das außerparlamentarische
Standbein abhanden gekommen: "Eine Partei mit einem kleinen Apparat, der in die Regierungsgeschäfte involviert ist. Aber eine Partei ohne Basis!. Die Hoffnung vieler ‚Bewegter’ habe darin bestanden, dass sie über Syriza im
Land einen politischen Raum erhalten würden und ihre Ideen umsetzen könnten. „Durch
die Regierungsübernahme ist das erstmal abrupt abgebrochen worden“, konstatiert
Marvakis. Aber auch die linken
Kritiker, die Syriza nach dem ‚Ja’ zum Memorandum verlassen hatten, bekommen
ihr Fett weg. Ihr Scheitern bei der Wahl an der Dreiprozenthürde war für Marvakis
vorhersehbar: „Es ist eben so, dass zwar ein Drittel der Griechen Syriza gewählt
haben. Aber das haben sie nicht getan, weil sie Links waren, sondern weil sie
eine andere Politik wollten.“ Mit diesem Problem hat ja nicht nur die
Linke in Griechenland zu kämpfen, man denke nur an die Verluste der Partei „Die
Linke“ in der Bundesrepublik an die AfD bei den letzten Landtagswahlen.
Marvakis warnte jedenfalls, Alexis Tsipras einfach nur als Verräter
abzustempeln: „Die internationale neoliberale Politik kann man nicht mit
‚Bordmitteln’ in Athen stoppen.“ Dies sei eine Aufgabe der gesamten
Linken in Europa. Angesichts dessen könne er Verstehen, dass der
Ministerpräsident jetzt versuche, die Unterstützung der Sozialdemokraten in der
EU zu bekommen.
Den erneut aufflackernden Debatten über einen Grexit
Griechenlands erteilte Marvakis in Stuttgart eine deutliche Absage. Der Wunsch
nach einer ad hoc Lösung mit schnellen und radikalen Lösungen sei kurzfristig
nicht nur in Griechenland unrealistisch. Eine dazu nötige Umorganisation einer
Gesellschaft brauche Zeit und das sei im Kampf gegen staatlichen Zerfall
wichtig. Die seit Jahrzehnten praktizierte neoliberale Politik habe ganze
Länder zerstört, wie das Beispiel Jugoslawien in den 1990er Jahren zeige. In
Griechenland laufe der Prozess der faktischen Deindustriealisierung ungebremst
weiter und ein Konzept für die
Agrarpolitik sei nicht in Sicht. Vielmehr warte man nur nach Brüssel und
hoffe auf Subventionen. Marvakis fragt: „In den letzten 30 Jahren sind Milliarden EU-Gelder
nach Griechenland geflossen – Wo sind sie geblieben?“
Und nun muss Griechenland auch noch die Flüchtlinge
unterbringen, vor deren Zuzug sich
die europäischen Staaten mit Stacheldraht
und Zäunen verbarrikadieren. Marvakis erinnerte daran, dass dieses Problem für
Griechenland nicht neu sei. Seit über 20 Jahren würden etwa 50 000 Flüchtlinge
– größtenteils illegal – in Griechenland leben. Deshalb wunderte ihn nicht,
dass bei der Evakuierung des Lagers von Idomeni, eine große Zahl von
Flüchtlingen einfach verschwunden sei. Bei aller Solidarität, die viele
Griechen und internationale Helfer zeigten sei aber auch klar, dass sich so
mancher Hellene an den Flüchtlingen eine ‚goldene Nase’ verdient habe. Als
Beispiel nannte er einen Händler, der mit dem illegalen Verkauf von
zigtausenden Sandwiches bei Idomeni ein Vermögen verdient habe. Der Staat
habe weggeschaut: „Der Witz daran? Der Typ war ein
ausgewiesener Rechtsradikaler!“ Auch viele Hoteliers würden mit der
Vermietung ihrer Unterkünfte an Frontex-Mitarbeiter und EU-Emissäre gut
verdienen.
Insel Chios: Frühling 2016 |
Alles in allem eine ziemlich ernüchternder Bericht und wo
bleibt das Positive? Die Fähigkeit der Griechen, angesichts eines desolaten
Staates, selbstständig zu Handeln. Dazu kommt die Unterstützung durch Aktive aus
dem Ausland, die vor Ort Helfen. Aber die Zeit wird knapp…
Nach der Veranstaltung hatte ich die Gelegenheit, mit Professor Marvakis ein Interview zu führen. Er ist Psychologe an der Aristoteles Universität
Thessaloniki.
Wie weiter in Griechenland: Die Antwort passt auf einen Zettel - oder? |
Frage: Vor einem Jahr
noch setzte die europäische Linke ihre Hoffnungen auf die Syriza-Regierung.
Jetzt herrscht überall eher Katzenjammer?
Marvakis: Ich
weiß nicht, ob es ein allgemeiner Katzenjammer ist. Letztes Jahr hat die Linke
in Europa wohl etwas romantisch nach Griechenland geblickt. Jetzt befindet man
sich eben näher zur Realität. Es ist nicht so, dass alles gegen die Wand
gefahren wurde, es bewegt sich durchaus etwas in Griechenland. Es bewegt sich
eben nur etwas langsamer, als es manche gerne hätten.
Frage: Gut, die
europäische Linke besteht also anscheinend aus Polit-Romantikern. Aber
hat man
bei Syriza nicht ebenso falsch gedacht, als man hoffte, dem Druck aus Brüssel
und Berlin ernsthaft widerstehen zu können?
Maulradikale - Chios Mai 2016 |
Marvakis: Syriza
ist ja ein Teil der europäischen Linken und deshalb haben sie genauso
romantisierend auf die Verhältnisse geschaut, wie die anderen Linken. Syriza
unterscheidet sich da nicht von anderen Linken in Europa.
Frage: Regierungschef
Tsipras scheint in Athen mittlerweile einen ähnlichen politischen Stil zu
pflegen, wie seine Vorgänger. Ganz oben im Olymp sitzt der Fürst und ist
unangreifbar. Droht jetzt ein Nepotismus (familiäre Günstlingswirtschaft). Wird
es jetzt so, wie wir es von den Regierungen der PASOK oder Nea Demokratia kennen?
Marvakis: Ob es
Nepotismus gibt, weiß ich nicht. Klar ist aber, dass Tsipras mittlerweile immer
präsidialer regiert, unterstützt von einer kleinen Gruppe Getreuer. Das wird
ihm sicher zum Verhängnis werden.
Frage: Bei aller Kritik
an Tsipras und seiner Regierung ist aber auch Realität, dass Otto-Normalgrieche
weder den Austritt aus dem Euro oder der EU und schon gar nicht die Revolution
will.
Marvakis: Dass
jetzt 30% der Wähler für Syriza gestimmt hat bedeutet eben nicht, dass diese
Menschen innerhalb der letzten Jahre Linke geworden sind. Griechenland ist eine
konservative, in vielen Bereichen sogar rückständige und rückwärtsgewandte
Gesellschaft. So etwas ändert sich nicht von einem zum anderen Wahlgang.
Frage: Die Probleme der
Zentralisierung auf eine Führungsfigur wie Tsipras zeigt sich anscheinend auch
bei Podemos mit dem charismatischen Parteiführer Iglesias in Spanien. Eine
zwangsläufige Entwicklung?
Marvakis: Spanien
ist wirtschaftlich und von der Größe ein wichtiges Land der Europäischen Union.
Griechenland mit seinen zehn Millionen Einwohnern und seiner
Wirtschaftsstruktur spielt weder für die EU, noch für die Politik in Berlin
eine ernsthafte Rolle. Die Situation bei Podemos ist nur schlecht vergleichbar
mit Syriza, denn Podemos ist keine Partei mit den klassischen Strukturen einer
solchen Organisation. Podemos hat sich aus der Bewegung auf der Straße
entwickelt. Man muss abwarten, wie es sich dort entwickelt. Sollte Podemos vor
eine ähnliche Situation gestellt werden, wie Syriza in Griechenland, würde das
immerhin bedeuten, dass sich in Europa schon etwas verändert hat. Die Linke
hatte ja nach dem Wahlsieg von Syriza die Hoffnung gehegt, dass sich auch in
anderen Ländern Europas etwas bewegt.
Frage: Für Dich ist ja
die Attacke gegen Griechenland, durch Finanzminister Schäuble in Wirklichkeit
gegen Frankreich richtet. Was meinst Du damit?
Marvakis: Schäuble verfolgt ganz bestimmte Pläne, wie
sich die Euro-Zone weiterentwickeln sollte. Dabei hat Frankreich als
zweitgrößte Wirtschaftsmacht in Europa einen besonderen Stellenwert. Man muss
bedenken, dass die Regierung in Paris ja bisher nicht die Vorgaben der EU
erfüllt hat, was Sparsamkeit und Staatsverschuldung betrifft. Was Schäuble von
Griechenland fordert, die Einhaltung geschlossener Verträge und Abmachungen, hält
Frankreich nicht ein – und das mit Wissen der deutschen Regierung. Berlin
versucht jetzt Paris dazu zu zwingen, auch die Politik der ‚Schwarzen Null’ im
französischen Haushalt umzusetzen. Es ist schließlich das Ziel der Verträge von
Lissabon, dass die Staaten der Europäischen Union ausgeglichene Haushalte
vorlegen. Und dieses Ziel verfolgt die Bundesregierung mit aller Kraft.
Frage: Einerseits
verlassen viele, vor allem gut gebildete junge Menschen das Land auf der Suche
nach Arbeit. Andererseits engagieren sich aber in Griechenland viele junge
Leute in alternativen Projekten oder auch versuchen innovative Geschäftsideen
umzusetzen. Ein Ausweg aus der klassischen Klüngel-Politik in Griechenland?
Marvakis: Es
stimmt, dass es in Griechenland sehr viele Initiativen gibt, sonst wäre das
Land in vielen Bereichen längst zusammengebrochen. Größtes Hindernis in
Griechenland ist der bürokratische und irrationale Apparat. Der Staat hilft
nicht, er behindert vielmehr die privaten Aktivitäten. Deshalb nenne ich es
auch nicht nur Klüngelwirtschaft, es geht vielmehr um den nicht
funktionierenden Staat.
Übrigens glaube ich nicht, dass so viele jüngere Leute das
Land verlassen haben. Dabei habe ich nichts dagegen, denn es ist doch den
jungen Leuten zu gönnen, endlich mal ein Leben mit einem sicheren Job und
Einkommen führen zu können. Mittlerweile kommen schon einige desillusioniert
zurück, weil sie nur Jobs im Niedriglohnbereich bekamen, mit denen sie auch im
Ausland kaum ihr Leben fristen konnten.
Frage: Die Diskussion
über die Wirtschaftsentwicklung in Griechenland wird seit Monaten von der
Flüchtlingsdebatte überlagert. Zunehmend kommt von Gemeinden und Inseln
Protest, dass die Regierung in Athen sie mit dem Problem völlig alleine lasse.
Ohne die Freiwilligen Helfer vor Ort, wäre die Situation noch katastrophaler.
Flüchtlinge erreichen Chios - September 2015 |
Marvakis: Dass
der griechische Staat ‚durch Abwesenheit glänzt’ ist ja nicht erst bei den
Flüchtlingen zu sehen. Und das betrifft auch nicht nur die Regierung unter
Tsipras, seine Vorgänger waren ähnlich untätig. Insofern könnte man der Regierung
Tsipras vorwerfen, dass sie zu sehr eine ‚Kontinuität des griechischen Staates‘
betreibt. Die aktuelle Situation hinsichtlich der Flüchtlinge muss man auch anders
sehen. Jetzt sind Regierung und Staatsapparat mehr gezwungen, etwas zu tun,
sich um die Flüchtlinge zu kümmern – oder zumindest so zu tun. Klar, das geht
nicht von einem Tag auf den anderen. Dass die Gemeinden vor Ort sich vom Staat
alleingelassen fühlen, ist ja schon seit langem so. Man erinnere sich: Vor
Jahren gab es an der türkisch-griechischen Grenze am Evros-Fluss viele
Flüchtlinge, die nach Griechenland und damit in die EU wollten. Schon damals
hat die Regierung in Athen die Gemeinden an der Grenze im Stich gelassen, die
mussten mit ihren Mitteln versuchen, das Elend zu lindern. Deshalb ist die
aktuelle Situation auf den Inseln der Ost-Ägäis (Lesbos, Chios, Kos) nicht neu.
Jetzt beobachtet die Weltöffentlichkeit die Situation und das könnte den Druck
auf Athen erhöhen, endlich zu handeln.
Frage: Viel Helfer aus
dem Ausland, engagieren sich vor Ort für die Flüchtlinge. Die Hauptlast tragen
aber immer noch die Griechen in den Gemeinden und auf den Inseln.
Marvakis: Das
stimmt, aber man darf nicht unterschätzen, wie groß das Engagement der
internationalen Helfer ist. Da nehmen sich Leute Urlaub und arbeiten vor Ort
ein paar Wochen, danach kommen andere – das ist schon beeindruckend. Viele
halten auch aus ihren Heimatländern Kontakt und engagieren sich.
Frage: Kürzlich hörte ich
auf einer Insel, internationale Helfer seien in Wirklichkeit getarnte Agenten ihrer
Geheimdienste. Eine der unter Griechen beliebten Verschwörungstheorien?
Marvakis: Klar,
das sind natürlich Verschwörungs-Phantasien. Aber es stimmt schon, dass sich in
den Transitstellen von Idomeni, Vertreter der Geheimdienste und
Verfassungsschutzorgane vieler Länder die Klinke in die Hand gegeben haben. Das
erklärt sich nicht nur damit, dass man verhindern will, dass etwa IS-Leute so
nach Europa kommen. Die suchen sich dann halt andere Wege. Ein Grund für die
Aktivitäten der Geheimdienste und Verfassungsschützer ist, dass die Staaten
ihren Bewohnern demonstrieren wollen, dass sie etwas tun. Ob man in den Zelten
der Flüchtlingslager dann wirklich Terroristen entdeckt – steht auf einem
anderen Blatt.
Frage: Bei all den
Problemen – was ist Deine positive Hoffnung für Griechenland?
Marvakis: Die
Hoffnung ist, dass sich das, was sich derzeit in Griechenland positiv bewegt –
und es bewegt sich was – schneller entwickelt, als die Katastrophe!
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